: Land in Sicht
Die Provinz ist bunt, voller Vorurteile, meistens blühend, manchmal öd, oft verlassen und gerne verlacht. Und ist doch vor allem im Kopf: als Projektionsfläche für blühende Phantasien
Die Bilder von Jess Jochimsen, 1970 in München geboren, verführten zu drei Ausflügen in die Provinz. Jochimsen fuhr in das städtische Hinterland und fotografierte das Abseits der Zentren. Gesehen hat der in Freiburg lebende Autor und Kabarettist Fassaden, die seit Jahrzehnten den Veränderungen trotzen, vergilbte Straßenschilder mit amüsanten Angaben, einsam besetzte oder gar geschlossene Lokale. Schreibfehler und falsche Übersetzungen, die niemand korrigiert, genauso wie niedlich dekorierte Schaufenster, einfallsreiche Namen und skurrile Geschäftsideen lassen die Provinz vergessen glauben.
Zwar fehlen die Menschen im Bildausschnitt, nicht aber in der Provinz. Dennoch stimmen die Bilder nachdenklich, und zeigen eine sich im Umbruch befindende Provinz. Diese Beobachtungen münden nicht automatisch in Trostlosigkeit, sondern rapportieren auch viel Witz und absurde Groteske. Es sind subjektive Erfahrungen, die der Fotograf nach seinem Geschmack ausgewählt und zusammenmontierte um Geschichten zu erzählen. Sie dokumentieren befreite Rhetorik, gesunden Pragmatismus statt blindem Glauben an raffinierte Marketingtheorien, die klare Zielgruppen zu erkennen vermeinen, und optimistische Selbstverwirklichung, insbesondere in Bezug auf Geschäftsideen.
Letztlich entlarven sie den arroganten Blick des Großstädters, der sich als Mittelpunkt für seine Welt das hektische Ballungszentrum auswählte. Und standhaft meint, es sei das einzige.
Die Provinz beginnt im Kopf, meint Martin Reichert, und beschreibt die Klischees, die zusammen mit den Einwohnern die Provinz bevölkern. Jene, die die Provinz der Hölle gleichsetzen, ziehen in die Städte und verdammen ihre Herkunft der Ferne.
Wer aber bleibt? Würde der in die Welt gezogene Städter fragen. Provinz bedeutet nicht automatisch Zurückbleiben, obwohl sich viele Menschen aus der Provinz von der Gesellschaft abgehängt fühlen. Wer also lebt dort? Jadranka Kursar beschreibt die Regionen außerhalb der Städte als bunt. Zwar wird die Provinz oft braun geschimpft, tatsächlich aber hat die Provinz ein breites Farbenspektrum.
Der Begriff der Provinz ist vielfältiger, als man oft glauben mag. Weg vom Begriff bleiben visuelle Oberflächen. Verlassene Brachen, oft gezeigt als Sinnbild der Provinz. Assoziiert mit Ödnis und Einsamkeit. Sie fungieren als leicht verfallene, aber doch funktionsfähige Projektionsflächen für Vorurteile – und bilden zugleich eine Herausforderung für Entdecker und Pioniere.
Leerstellen, versehen mit einer Ästhetik der (vermeintlichen) Ödnis. Stillgelegte Fabriken und ganze Landstriche die nicht mehr genutzt werden, sind kein neues, aber dafür gern und ausführlich diskutiertes Phänomen all jener Wissenschafter, die sich mit dem demografischen Wandel beschäftigen. Keineswegs sind diese nur in der Provinz zu finden, sondern genauso auch in urbanen Räumen. Wird Provinz mit leerer Ödnis gleichgesetzt, würde sie ins Zentrum rücken. GINA BUCHER
SÄMTLICHE FOTOS: JESS JOCHIMSEN aus dem Fotoband „Danebenleben“, 2007 (2. Auflage: Januar 2008), erschienen bei Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München