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Archiv-Artikel

Einschulen und ausspannen

Wann ein Kind reif für die Einschulung ist, hängt stark davon ab, wie unabhängig es schon ist. Die erste Zeit in der Schule strapaziert die Kinder ebenso wie die Eltern. Statt Pauken und Panikmache sind Ruhe, Erholen und Zuwendung wichtig

Wenn ihr Kind eingeschult wird, kommen bei vielen Eltern Ängste aus der eigenen Schulzeit wieder hoch

VON JUTTA SCHULKE

Mit dem ersten Schuljahr beginnt für hunderttausende Kinder und Eltern ein neuer Lebensabschnitt. Ob ein Kind bereits mit fünf Jahren zur Schule darf oder muss und wie viel Mitspracherecht die Eltern bei dieser Entscheidung haben, ist je nach Bundesland verschieden. Wann aber ist ein Kind reif für die Einschulung?

„Das Alter ist nicht der entscheidende Faktor“, sagt Renate Niesel, Psychologin am Staatsinstitut für Frühpädagogik (IFP) in München. In Neuseeland kämen alle Kinder mit fünf Jahren zur Schule. In Skandinavien dagegen würden Kinder erst mit sieben Jahren eingeschult, und in den Niederlanden schon im Alter von vier. Starken Einfluss auf das Lernvermögen hätten diese Unterschiede nicht, urteilt Niesel: „Es gibt viele andere Puzzelsteinchen, die bei der Einschulung eine Rolle spielen, zum Beispiel das Geschlecht oder die Kultur.“ Auch die emotionale Reife entscheide über das richtige Einschulungsalter. Wie viel Zuwendung braucht mein Kind noch? Kann es sich schon in einer größeren Gruppe durchsetzen? Reifetests brächten in diesem Bereich wenig, meint Niesel. Stattdessen seien die Einschätzungen der Eltern und Kindergärtnerinnen gefragt.

Für die ersten Wochen vor und nach dem Schulbeginn rät Niesel den Eltern: „Kinder möchten meistens gerne in die Schule gehen. Sie wissen, dass sie dann zu den Größeren gehören. Ein Kind sollte sich auf die Schule freuen. Tut es das nicht, müssen die Eltern dem Grund unbedingt nachspüren.“

Bei manchen Eltern kommen Erinnerungen hoch: Der Schulbeginn des Kindes belebt alte Erfahrungen. Eltern übertrügen Ängste dann oft auf ihr Kind, beobachtet Inge Hirschmann vom Grundschulverband der Landesgruppe Berlin. Sie rät: „Eltern sollten über ihre eigenen, unbewussten Ängste nachdenken. Und darüber, dass die Grundschulen sich verändert haben.“ Für einen guten Schulstart sei der frühe und intensive Kontakt zu den Lehrern wichtiger als das Alter des Kinder, urteilt Hirschmann. Es ließe sich zum Beispiel besprechen, ob ein fünfjähriges Kind bereits die gesamten Hausaufgaben lösen müsse. Die Grundschullehrerin appelliert auch an die Lehrkräfte: „Lehrer fühlen sich oft angegriffen. Dabei sind die Eltern meistens doch nur in Sorge.“

Die Einschulung wirbelt den Alltag der gesamten Familie durcheinander. „Eltern sollten ihr Privatleben daher zunächst mehr auf das Kind ausrichten und das Bildungs- und Kulturprogramm am Nachmittag einschränken“, empfiehlt Hirschmann. Es sei wichtig, genau hinzugucken, wie müde das Kind nach dem Schulunterricht sei. „Es sind nicht nur die Fünfjährigen, die sehr erschöpft von der Schule kommen. Die Kinder brauchen nach dem Unterricht erst einmal Ruhe und Erholung. Und zwar nicht vor dem Fernseher“, erklärt Psychologin Niesel und fügt hinzu: „Eltern tun gut daran, ihren Perfektionsdrang bei den Hausaufgaben einzustellen. Sie sollten nicht dem Trugschluss verfallen, sie müssten noch mehr üben und üben, wenn es mit dem Schreiben und Lesen nicht so klappt, wie sie es sich vorgestellt haben. Für eine Lehrerin kann es am Anfang sehr interessant sein, welche Fehler ein Kind macht.“

Lehrerin Hirschmann arbeitet an einer jahrgangsübergreifenden Grundschule in Berlin-Kreuzberg – in ihren Klassen unterrichtet sie Fünf- bis Achtjährige. Ein Modell, das nach Ansicht von Fachfrau Niesel deutlich stärker Schule machen sollte, denn „die flexiblen Eingangsstufen ermöglichen ein weitaus individuelleres Lernen. Die Kleinen lernen von den Großen, und die Kinder werden vom Trauma verschont, nicht versetzt zu werden.“ Pädagogin Hirschmann weist allerdings darauf hin, dass das Konzept nur dann problemlos aufgeht, wenn Schulen gut mit Räumen und Personal ausgestattet sind und die Kinder überwiegend aus gutbürgerlichen Häusern kämen: „In sozialen Brennpunkten läuft es einfach anders“, urteilt sie. Gerade für die jüngsten Schulanfänger seien ausreichend Spiel- und Rückzugsräume wichtig. „Die müssen auch mal herausgehen dürfen oder mit Bauklötzen spielen können.“

Eine frühe Einschulung kann für Kinder eine große Chance sein. Eltern sollten nach Niesels Ansicht nicht glauben, ein weiteres Jahr im Kindergarten beschere ihrem Sprössling automatisch mehr Reife. Häufig verberge sich hinter dieser Einschätzung der Wunsch, das Kind noch nicht loslassen zu müssen. „Eltern wissen oft nicht, dass der Schuleintritt ein starker Entwicklungsimpuls sein kann. Sie sind dann sehr überrascht davon, wie das Kind daran wächst“, hat die Psychologin beobachtet.

Zwischen pädagogischen Konzepten und dem Anspruch, für sein Kind stets das Beste im richtigen Alter zu wollen, raten die beiden Expertinnen Eltern, sich auf das Wesentliche zu besinnen. „Die Frage, ob ein Kind Freunde hat, ist in diesem Alter oft viel wichtiger als die Schule“, warnt Niesel. Außerdem sollten Eltern nicht in Pisa-Panik verfallen, fügt Hirschmann hinzu: „Gut versorgte Kinder aus einer funktionierenden Familie werden keine Probleme im Leben haben.“