: Öffentliche Abkehr
Wechseljahr 2008 (30): Wie fühlt sich Amerika? Dagmar Herzog über die Verfasstheit einer Changing Nation
„Du kannst von hier aus, von der Küste Alaskas, Russland sehen“, beteuerte Sarah Palin freimütig-naiv gegenüber dem Fernsehreporter Charles Gibson, als sie gefragt wurde, was sie denn genau im Bereich Außenpolitik für Sachkenntnis vorzuweisen hätte. Was zuerst als fatales Manko an Sachkunde erschien und bald den Kabarettisten lustigsten Stoff bot, um Palin durch den Kakao zu ziehen, wurde durch John McCains Stab rasch umgedeutet. Von den Medien unterstützt hieß es schleunigst, Gibson habe sich wie ein alter pedantischer Professor benommen, und Palins Interview sei einfach „fabelhaft“ gewesen. Man war weiter von Palin fasziniert, und ihre offensichtlichen Schwächen wurden ihr von Wählern sogar noch zugute gehalten: „Sie ist genauso unvollkommen wie wir auch“ – „Sie ist eine Frau mit Courage, und was sie nicht weiß, kann sie schnell lernen“ – „Ich kenne Leute mit viel Erfahrung, die völlig inkompetent sind, und Leute ohne Erfahrung, die in eine Situation eintreten und alles sofort schnallen.“ Der rechtselitäre Journalist William Kristol lieferte auch seine Unterstützung und vermerkte bedeutungsschwanger: „Von Zeit zu Zeit muss der Baum der Freiheit aufgefrischt werden mit dem Wrackgut torpedierter Establishments.“
Aber seitdem die Erschütterung an der Wall Street die Außenpolitik als Tagesthema vorerst verdrängt hat, gerät McCains Kampagne zum ersten Mal seit Palins Ernennung ins Stolpern. Alle wichtigen Zeitungen melden – und kritisieren – McCains und Palins entweder hilflos widersprüchliche oder ganz offen opportunistisch-verlogene Kehrtwendungen bei den Themen Wirtschaftsaufsicht, stringentere Regulierung und Rettungsaktionen aus der Staatskasse. Und auf einmal werden den Republikanern, neben Kritik an McCains Aussagen über Finanzmarktfragen, nun auch seine Lügereien in den Werbespots und Palins Unerfahrenheit in der Außenpolitik zum Verhängnis. Eine beeindruckende Reihe konservativer Meinungsmacher wenden sich von McCain und Palin ab – öffentlich. Richard Cohen bekennt in der Washington Post, er sei tief betrübt, dass er einst McCain-Befürworter war; nun ist er beschämt, dass sein vormals makelloser Held zu dreisten Lügen übergegangen ist. David Frum, einst Redenschreiber für Bush, macht sich Sorgen, Palin sei nicht nur in der Außenpolitik ein „Neuling“ sondern womöglich auch „paranoid und rachsüchtig.“ Wick Allison, ehemaliger Verleger des erzkonservativen National Review, sagt unumwunden, dass McCains immer wieder laut vorgetragene Intention, Bushs Steuerkürzungen beizubehalten, nur seine Ignoranz des wahren Konservatismus verriete; er selbst würde nun zu Obama überwechseln. Sogar der Kolumnist David Brooks, der über ein scheinbar endlos erneuerbares Repertoire von entschuldigenden Erklärungen für McCain- und Palin-Patzern verfügt, gab zu, dass Palin in der Tat nicht supergut vorbereitet sei zu regieren. Und Umfragen zeigen: Die Demokraten kriegen Aufwind.
Tragisch, dass es einer Finanzmarktkrise bedurfte, um diese Wendung zu erreichen. Aber es ist die erste gute Nachricht für die Demokraten seit Ende August.
DAGMAR HERZOG, geboren 1961, Historikerin, forscht u. a. über den Aufstieg der religiösen Rechten in den USA