: Alles chillt fast pausenlos
Vergebliche Suche nach dem „echten“ Leben zwischen Virtualität und den steilen Felsen Norwegens: Jungregisseurin Andrea Udl inszeniert am Thalia in der Gaußstraße Igor Bauersimas Selbstmörder-Stück „norway.today“
von ANNETTE STIEKELE
Als Julie an der Klippe hängt, ist plötzlich alles schwierig. Der Abgrund sieht erschreckend echt aus. Schluss mit der Simulation. Kein Vater mehr weit und breit, der sie retten könnte, wie in der Kindheit, nur August, ein weiterer unentschlossener Selbstmordkandidat.
Dabei versprach es ein großartiger Moment zu werden. Wo das Leben für diese beiden jungen Menschen in Igor Bauersimas norway.today nur noch virtuell erfahrbar ist, scheint der Tod die einzig reale Erfahrung „Alles chillt“, sagt August. „Alles ist Fake.“ Sehnsucht nach dem wirklichen Leben ergreift ihn, nach dem, „was ist“. Kein Spiel, sondern Ernst.
Und seine Suizidgefährtin Julie hat vor lauter Langeweile einfach „die Schnauze voll“ und will den „höchsten Akt des Lebensvollzugs“ begehen, aber nicht allein. Und so fahndet sie im Internet nach einem ebenfalls Lebensmüden, der mit ihr gemeinsam in den Tod geht. Natürlich medienwirksam inszeniert von einer Klippe eines norwegischen Felsplateaus, das steil in die Tiefe ragt. Im Netz trifft sie auf August. Ob sie es tun oder nicht, die Frage blieb bei der Premiere von norway.today des Schweizer Autors Igor Bauersima im Thalia in der Gaußstraße spannend bis zuletzt.
Die Idee kam Bauersima bei der Lektüre des Spiegel. Darin las er eine Notiz über eine 21-jährige Frau und einen 16-jährigen Jungen, die sich in einem Chatroom zum gemeinsamen Sterben verabredet hatten und wenig später in Norwegen von einem Berg sprangen.
Was hat sich da oben abgespielt? Diese Frage inspirierte Bauersima zu einem ungewöhnlich tief gehenden Theaterstück. Da ist weit und breit keine platt abgebildete Jugendkultur, und keine alltäglich banalisierte Popsprache. Sondern existentielle Dialoge, die unter die Haut gehen und den Schauspielern Ausdrucksraum lassen. Für ihr Regiedebüt leitet die 27-jährige Andrea Udl den Abend mit einer schnellen Videofahrt und pulsierenden Elektroklängen ein und überlässt den Raum dann ihren JungdarstellerInnen. Bühnenbildnerin Petra Winterer pflanzt die beiden erst in geschlossene Chaträume, inklusive Smileyschild, später in eine Eiswüste. Dort turnen sie dann herum, reden und filmen einander.
Jörg Kleemann als August ist ein etwas verträumter junger Mann mit Strubbelhaar. Ihn treibt mehr die Neugier und die Bewunderung, die er für seine forsche Begleiterin hegt. Und die Julie von Anna Blomeier ist ein zorniges, verrücktes Mädchen, das überzeugend zwischen Altklugheit und „Ich hab schon alles gesehen“-Mentalität und Sehnsucht nach dem Echten oszilliert.
„Leben ist für mich ein Problem, das ich jeden Tag von Neuem lösen muss. Wenn ich meinen tiefsten Instinkten folgen würde, ich würde von morgens bis abends um Hilfe schreien“, sagt August in die Videokamera. Sie soll letzte Worte an die Lieben übermitteln. Julie ist beeindruckt. Sie kriegt das nicht so gut hin. Hier im Schnee, nur mit Zelt, Proviant, Bier und Kamera ausgestattet, bekommen es die beiden auf einmal mit dem Leben zu tun. Und treten ungewollt eine Liebesgeschichte los, in der sie sich vorstellen, was sie tun würden, wenn sie sich einander näherten. Unerwartete Komik durchbricht hier den melancholischen Ton und das Endzeitgerede. Als August bekennt, mit Julie schlafen zu wollen, sagt sie rotzfrech: „Dann gehe ich jetzt mal ins Zelt und mache mich frisch.“
Vielleicht wäre am Schluss doch alles anders gekommen, wenn das Nordlicht nicht gewesen wäre, das in Natur viel toller aussieht als auf Video. Plötzlich erkennt Julie, dass sie noch gar nicht alles gehabt hat. So einfach ist es, ins Leben zurückzufinden – und doch wieder nicht. „Es könnte sein, dass wir soeben von einem Glück getroffen wurden, von dem wir uns nicht so schnell erholen werden“, sagt August. Das Sterben ist unmöglich geworden, das Leben noch nicht wieder möglich. Doch es hat bei Bauersima gesiegt.
nächste Aufführungen: 11. + 23. Januar, 20 Uhr, Thalia, Gaußstraße 190