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Archiv-Artikel

Der Umgang mit großen Tieren

Von Knallerbsen, trockenen Gaumen, zitternden Gliedern und einer Mauerflucht

Der Hund saß bewegungslos vor der Mauer und beobachtete jeden unserer Atemzüge

Ich bin noch gar nicht so furchtbar lange in Berlin, aber ich kann jetzt endlich auch eine sehr dramatische Mauerflucht-Geschichte zur allmählich abebbenden Mauerflucht-Debatte beisteuern.

Meine beste Freundin aus den Kindertagen besuchte mich unlängst in der Hauptstadt. Johanna! Wir flanierten in den Prachtmeilen herum und setzten unsere Füße auch über die zweireihige Steinmarkierung, die in der Friedrichstraße den ehemaligen Verlauf der DDR-Mauer nachzieht. „Hier, schau“, sagte ich, „hier verlief einst der antifaschistische Schutzwall der Deutschen Demokratischen Republik.“ Johanna aber fand das ennuyant und sagte: „Pah! Antifaschistischer Schutzwall! Pah! Mauer! Pah! DDR!“. Sie sah mich an, als ob ich gerade irre geworden wäre.

Ich muss wohl recht schwerfällig zurückgeguckt haben, jedenfalls packte Johanna mich bei den Schultern, schüttelte mich durch, sah mir dann direkt mitten in die Augen und beschwor mich mit der Formel: „Mauer! Mauer!! Mauer!!!“. Irgendwann begriff ich dann auch, woran sie mich erinnern wollte …

Irgendwann Ende der Achtzigerjahre, als Johanna und ich noch „Heranwachsende“ waren, schlenderten wir gegen ein Uhr in der Nacht aus unserer Lieblingskneipe „Schluckspecht“ im westfälischen Münster heraus. Im Rucksack je eine Dose Tuborg, mit der wir eigentlich unsere Biergläser im Lokal heimlich auffüllen wollten, um die Sperrstunde hinauszuzögern. Das lief aber nicht so gut an dem Abend, so zogen wir in die Nacht hinaus. Wir entdeckten eine bezaubernde Mauer, die zu einem Abrisshaus gehörte, kletterten hoch, öffneten unsere Tuborg-Dosen, zündeten Zigaretten an und saßen dort.

Nach fünf Minuten kam auf dem Bürgersteig unter uns ein Schäferhund vorbei, schnüffelte herum, hob sein Bein – was Hunde eben so tun. Wir narrten ihn ein wenig mit Zisch- und Schnalzlauten, er schaute zu uns hoch und wedelte ein bisschen mit dem Schwanz. Johanna aber hatte Knallerbsen dabei – wahrscheinlich irgendein Spaßgeschenk von irgendwem zu irgendeinem Anlass –, und wir kamen auf die Idee, dem Hund so ein Ding mal zwischen die Pfoten zu schmeißen. Peng! Der Hund machte erschrocken „wuff“ und kuckte noch immer schwanzwedelnd zu uns hoch. Knallerbsen sind nicht besonders laut, verletzen kann man damit nicht mal eine Maus, aber wir hatten unseren Spaß daran, den Schäferhund zu irritieren. Der Hund wurde immer wütender. Aus „Schwanzwedeln“ wurde nach zehn Knallerbsen „Knurren und Zähnefletschen“. Wir aber hatten 50 Knallerbsen! Bald versuchte er, an der Mauer hoch zu springen, um uns zu erwischen, er wollte uns wenigstens in die Füße beißen. Da lachten wir noch laut und dreckig, er kam ja eh nicht an uns heran.

Die Tuborgs waren allerdings schon nach einer halben Stunde alle, die Knallerbsen gingen auch zur Neige. Zigarettennotstand breitete sich langsam, aber unleugbar aus. Und der Hund war mittlerweile in eine so irrsinnige Wut verfallen, dass Johanna und ich uns nicht mehr von der Mauer runtertrauten. Der Weg nach hinten war durch Stacheldraht abgeschnitten, wir bekamen trockene Gaumen und allmählich ein ungutes Gefühl. Die letzten fünf oder zehn Knallerbsen warfen wir dann nicht mehr, wir bewegten uns sogar kaum noch, denn wir hofften, dass es dem Hund irgendwann langweilig werden würde, dort vor der Mauer darauf zu warten, dass wir herunter kämen.

Der Hund jedoch saß nun bewegungslos vor der Mauer und beobachtete jeden einzelnen unserer Atemzüge. „Hat der denn kein Herrchen?“, raunte Johanna mir zu. Ich wusste es nicht! Der Hund saß dort unten geschlagene eineinhalb Stunden mit dem festen Wissen: „Irgendwann müssen sie herunterkommen.“ Wir saßen geschlagene eineinhalb Stunden fast bewegungslos und mit schmerzenden Hinterbacken auf unserer Mauer. Dann trollte sich dieser Scheißhund endlich.

Als wir uns sicher waren, dass er weg war, kletterten wir mit zitternden Gliedern von der Mauer und suchten unsere Fahrräder. Dann fuhren wir schwer verängstigt nach Hause, telefonierten noch in der selben Nacht und entschieden, dass der Hund eigentlich nicht Schuld war, sondern dass wir angefangen hatten. Und die Moral von der Geschicht: Willst du große Hunde ärgern, sorge zuvor für ausreichend Bier und Zigarettenvorräte. CORINNA STEGEMANN