: Brüder im Geiste, Brüder im Wahn
Noch heute heißt die afghanische Fluggesellschaft Ariana: Inspiriert von Rassekundlern und Nationalsozialisten entdeckten die Afghanen in den 30er-Jahren ihre arischen Wurzeln. Ironie der Geschichte ist, dass sie sich vorher für Juden hielten
von JAN KUHLMANN
Die Deutschlehrer des neuen Goethe-Instituts in Kabul freuen sich sicherlich, dass viele Afghanen ihre Kurse besuchen möchten. Doch Verwunderung erregt das Argument, mit der die Sprachschüler ihr Interesse begründen: „Deutsche und Afghanen sind doch beide Arier“, bekam unlängst Peter Böhm zu hören, als er für die taz aus Kabul über die Wiedereröffnung des Goethe-Instituts berichtete (siehe Ausgabe vom 16. 11. 2002). Nun, er war nicht der erste Deutsche, der sich über die Stammverwandtschaft der Germanen mit den Bewohnern des Hindukusch belehren ließ: Als 1936 der afghanische Außenminister Faiz Muhammad Khan Deutschland besuchte, um Waffenlieferungen zu erbitten, schmeichelte er sich bei Hitler mit den Worten ein, sein Volk betrachte Deutschland als älteren und fortgeschrittenen arischen Bruder.
Auch wenn sich Hitler unter einem Arier wohl eher einen blonden Hünen als einen dunkeläugigen Orientalen vorstellte, die Afghanen hatten durchaus mehr Recht, sich Arier zu nennen, als die Mitteleuropäer. Schon der griechische Kosmograf Eratosthenes beschrieb im dritten Jahrhundert vor Christus das östlich von Persien auf dem Gebiet des heutigen Afghanistan gelegene Land „Ariana“. Als Arier, was so viel bedeutet wie „Edle“, bezeichneten sich schon vor Urzeiten die alten Iraner und Inder. Erst als europäische Linguisten zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Verwandtschaft des altindischen Sanskrit mit den europäischen Sprachen entdeckten, bemächtigte sich der Westen des Arier-Begriffs.
Doch während die Wissenschaftler von der „indogermanischen“ Sprachfamilie redeten und nur deren asiatischen Zweig als „indo-arisch“ bezeichneten, fanden die völkischen Geheimgesellschaften der Kaiserzeit Gefallen an dem Wort Arier. Für sie waren das die blonden Herrenmenschen der Urzeit. Mit den Erkenntnissen der Sprachwissenschaft oder mit den Überlieferungen der Inder und Iraner hatten diese Arier nichts zu tun. Wenn die Nationalsozialisten später die Deutschen als Arier bezeichneten, dachten sie dabei keineswegs an entfernte Vettern zwischen Euphrat und Ganges. Für sie bedeutete Arier nichts weiter als Nichtjude.
Im Mittleren Osten nahm man diesen feinen Unterschied nicht wahr. Der Schah von Persien nannte sein Reich 1935 in Iran um, nachdem ihm sein Gesandter aus Berlin berichtet hatte, dass dort das Ariertum hoch im Kurs stehe. Etwas später begannen die Afghanen, sich auf ihre arischen Wurzeln zu besinnen. Die Paschtunen, die damals wie heute die führende Rolle in dem Vielvölkerstaat spielten, sprechen eine dem Persischen verwandte Sprache und gehören deshalb zweifellos zur indo-arischen Sprachgruppe. Afghanische Historiker erklärten ihre Heimat nun gar zum Ursprungsland der alten Arier, von dem aus diese nach Indien, Iran und Europa wanderten. Die heiligen Schriften der Hindus, die „Veden“, und der alten Iraner, das „Awesta“, sollen dort entstanden sein. Die afghanische Intelligenz nahm die Geschichte der „Könige von Ariana“ in den 30er-Jahren fest in ihr Nationalbewusstsein auf. Eine populäre Zeitschrift nannte sich nun Ariana. Noch heute trägt die afghanische Fluggesellschaft den gleichen Namen.
Kein Wissenschaftler konnte bisher die Herkunft oder gar die Existenz des indogermanischen Urvolks zweifelsfrei nachweisen. Manche vermuten dessen Ursprung in Südrussland, manche im Kaukasus, und indische Historiker lehren, dass Indien das Stammland der alten Arier ist. Die afghanische These hat also nicht mehr oder weniger Berechtigung als jede andere der zahlreichen Theorien.
Dass die Afghanen und Deutsche arische Brüder sein sollen, ließe sich mit der indogermanischen Sprachverwandtschaft zwar begründen, doch wären dann auch Engländer, Franzosen, Russen und die meisten Völker Europas ebenfalls arische Verwandte. Auch sie sprechen eine indogermanische Sprache.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass vor dem Ariermythos ein ganz anderer Ursprungsmythos das Selbstverständnis der Afghanen prägte. Bevor sie sich für Arier hielten, sahen sich die Afghanen nämlich als die Beni Israel, also als Juden.
Als fromme Muslime leiteten sie ihre Herkunft aus der religiösen Überlieferung ab, und zwar aus der ältesten, die für den Islam maßgeblich ist, dem Alten Testament. Der biblische König Saul, so schrieben die alten Historiografen der Paschtunen, soll einen Sohn namens Afghana gehabt haben, der von König David aufgezogen wurde. Aus der babylonischen Gefangenschaft kehrten nur zwei der zwölf Stämme in das Gelobte Land zurück, andere siedelten sich in Arabien nahe Mekka an, und ein weiterer Teil ließ sich am Hindukusch nieder. Sie wurden, dem alten Ursprungsmythos zufolge, die Vorfahren der Afghanen. Doch die jüdische Abstammung der Paschtunen konnten weder die Bibel noch die Kulturwissenschaften nachweisen. Der arische Ursprung ließ sich hingegen durchaus mit den Erkenntnissen der indogermanistischen Linguistik belegen.
Der deutsche Rassekundler Hans F. K. Günther, seit 1930 Professor für Sozialanthropologie in Jena, erkannte die Verwandtschaft der Indogermanen Europas und Asiens an. In den Angehörigen der afghanischen Oberschicht entdeckte er „Züge der nordischen Rassenseele“, wie er in seiner 1934 veröffentlichten Studie über „Die nordische Rasse bei den Indogermanen Asiens“ schrieb. Und als anlässlich des 1.000 Geburtstages des persischen Nationaldichters Firdausi 1934 in Berlin eine „Persische Straße“ eingeweiht wurde, pries Oberbürgermeister Salm das Werk dieses Poeten und stellte eine „überraschende Ähnlichkeit mit den deutschen Heldensagen“ fest. In den Heldengedichten fänden die beiden Völker zusammen, die ihren Ursprung auf die gleiche Familie der Arier, also auf gemeinsame Ahnen, zurückführen könnten. Die Achtung der Kulturen fremder Völker sei einer der vornehmsten Grundsätze des Nationalsozialismus, versicherte der Oberbürgermeister, bevor er auf den Schah von Persien ein dreifaches „Sieg Heil“ darbrachte.
Das sahen die niederen Schergen der SA durchaus anders. Dies musste der afghanische Gaststudent Abdur Rahim erfahren, als er von einem braun uniformierten Schlägertrupp bedroht und geschlagen wurden. Die SA-Leute drangen in den Garten der afghanischen Studentenschaft ein und pöbelten die Bewohner des Heimes an. Auch iranische und indische Studenten klagten über Übergriffe, bis das Auswärtige Amt, unterstützt von den Verbänden der Exportwirtschaft, bei der Reichsleitung der NSDAP um eine Mäßigung der Rassenpropaganda bat. Die führenden Nationalsozialisten hatten ein Einsehen und gaben eine amtliche Stellungnahme ab, dass es rassische Diskriminierung im Deutschen Reich nur für Juden geben dürfe. Mit allen anderen Rassen und Völkern wolle das „neue Deutschland“ freundschaftlich und mit gegenseitiger Hochachtung umgehen, solange es dabei nicht zu Mischehen komme.
In der Tat bemühte sich die Diplomatie des Deutschen Reichs eifrig, im Mittleren Osten an Einfluss zu gewinnen. Die deutsch-afghanischen Beziehungen begannen 1916, als überraschend eine geheime Delegation des Deutschen Kaisers nach einem lebensgefährlichen Wüstenmarsch in Kabul auftauchte und dem Emir Habibullah ein Bündnisangebot unterbreitete. Der Emir ließ sich zwar nicht zum Krieg gegen Briten und Russen überreden, doch nahm er gern diplomatische Beziehungen mit Deutschland auf. Damit brach er einen Vertrag mit den Briten, dem zufolge er nur mit ihnen außenpolitische Kontakte pflegen durfte, und stellte seine volle Souveränität wieder her.
In den 20er- und 30er-Jahren waren deutsche Experten gern gesehene Gäste in Afghanistan. König Amanullah wollte sein Land modernisieren, und im von Inflation und Arbeitslosigkeit geschüttelten Deutschland fanden sich fleißige und fachkundige Männer, die bereit waren, für bescheidene Gehälter in den Orient zu ziehen. Deutsche arbeiteten als Straßenbauer, Elektroingenieure und Lehrer. 1924 wurde in Kabul die deutschsprachige Amani-Schule gegründet. Das Postwesen unterstand einem Deutschen, und deutsche Instrukteure reformierten das afghanische Militär.
Trotz des verlorenen Ersten Weltkriegs hielt Amanullahs Nachfolger Nadir Schah die Deutschen für die besten Soldaten der Welt. Als er 1931 sein Heer zur ersten Militärparade in der Geschichte des Landes aufmarschieren ließ, trugen die Soldaten feldgraue Stahlhelme aus Beständen der Reichswehr. Lebhafte Beziehungen zwischen Deutschen und Afghanen gab es also schon, als die Ariertümelei noch keine Rolle spielte. Die Afghanen schätzten Deutschland als Freund, der keine imperialistischen Ziele verfolgte und ihnen Halt gegen die zudringlichen Briten und Sowjets geben konnte.
So verwundert es nicht, dass die führenden Köpfe des Landes den Aufstieg der Nationalsozialisten mit Unbehagen beobachteten. Sie fürchten, das Deutschland zu einer aggressiven Weltpolitik übergehen werde. Doch mit der Zeit entwickelten die afghanischen Politiker große Achtung vor dem „Dritten Reich“ und verfolgten die politische Entwicklung in Europa bis in Einzelheiten. Selbst im Zweiten Weltkrieg widersetzten sich die Afghanen bis zuletzt dem Druck der Sowjets und Briten, die diplomatischen Beziehungen zum Reich abzubrechen.