: Nordkorea braucht die Bombe
Präsident Bush kann die Atomwaffen des Diktators Kim Jong Il kaum noch verhindern. Am Ende könnte Nordkorea auf ihren Export verzichten – bis zur nächsten Krise
Möglicherweise hat sich Nordkoreas Diktator Kim Jong Il längst zum Bau von Atomwaffen entschlossen, um dem Schicksal der Taliban, von Slobodan Milošević und wohl auch dem von Saddam Hussein zu entgehen. Das Regime kann es sich gar nicht leisten, ernsthaft auf diese Option zu verzichten. Zwar ist Nordkorea auch ohne Atomwaffen gegenüber dem Süden hochgerüstet. Doch ohne Nuklearoption hätte Pjöngjang international und vor allem gegenüber den USA kaum Einfluss. Wenn überhaupt, kann das bankrotte Regime auf atomare Drohungen nur zeitweilig verzichten – bis es in einer günstigen Situation die nukleare Karte erneut ausspielt, um längst verhandelte Fragen wieder aufzutischen und zum eigenen Vorteil nachzuverhandeln.
Zwar mag die Regierung nie ernsthaft den Verzicht auf die Entwicklung von Atomwaffen erwogen haben. Doch zumindest hatten die USA bis zum Frühjahr 2002 keine gesicherten Geheimdiensterkenntnisse über Pjöngjangs Programm. Die Bush-Regierung schlug jedoch bereits mit ihrer Amtsübernahme im Januar 2001 einen radikalen Wechsel in der Nordkorea-Politik ein. Sie beendete Clintons „Engagement“-Politik; er hatte im Abkommen von 1994 Nordkoreas Atomverzicht mit der Lieferung zweier ziviler Reaktoren und bedeutender Mengen Öl honoriert. Bush hingegen setzte sofort auf die Isolierung Pjöngjangs und brach weiter reichende Sicherheitsgespräche ab.
Nachdem im September 2002 in Washingtons Nordkorea-Politik wieder gemäßigtere Kräfte um Außenminister Powell die Oberhand gewonnen hatten, folgte Pjöngjangs Eingeständnis seines geheimen Atomwaffenprogramms. Die USA reagierten mit der Beendigung der Öllieferungen. Doch je mehr Washington sich auf den Regimewechsel im Irak versteifte, desto mehr verlor es gegenüber Pjöngjang die Initiative.
Die Eskalation und ihre Perspektiven: Zunächst gab Nordkorea bekannt, das 1994 eingestellte Plutoniumprojekt wieder aufzunehmen, dann warf es die Inspektoren der Internationalen Atomenergiebehörde aus dem Land, kündigte den Atomwaffensperrvertrag und droht jetzt mit der Wiederaufnahme der Raketentests. Die nächsten Stufen könnten das Hochfahren der Atomanlage, Tests mit konventionellen oder gar Atomraketen sein, dazu womöglich Grenzprovokationen gegenüber dem Süden oder Zwischenfälle in japanischen Hoheitsgewässern.
Während eines Irakkrieges kämen solche nordkoreanischen Schritte Washington höchst ungelegen. Deswegen setzt sich US-Präsident Bush lieber dem Vorwurf aus, die beiden Länder mit zweierlei Maß zu messen und ausgerechnet bei dem Regime nachgiebiger zu sein, das bei der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen wesentlich weiter ist. Zwar erklärte Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vollmundig, die USA seien sehr wohl in der Lage, zwei Kriege gleichzeitig zu führen. Doch die militärische Option gegenüber Nordkorea ist für Washington nicht nur wegen der zurzeit auf Hochtouren laufenden Mobilisierung für den Irak riskant.
Nordkorea verfügt nicht nur über eine Million Soldaten, sondern besitzt aus geografischen wie militärischen Gründen schon jetzt die Kraft zur Vergeltung. Ein Drittel seiner 500 bis 600 Kurz- und Mittelstreckenraketen können mit Bio- und Chemiewaffen bestückt werden. Ihr Einsatz würde in Südkorea und Japan, wo jeweils US-Truppen stationiert sind, verheerende Zerstörungen anrichten. Zudem liegt Südkoreas Metropole Seoul, in deren Großraum mit rund 14 Millionen Menschen über ein Drittel der südkoreanischen Bevölkerung lebt, in Reichweite nordkoreanischer Artillerie. Jeder US-Militäreinsatz gegen Nordkorea birgt also unkalkulierbare Gefahren. Südkoreaner und Japaner akzeptieren einen US-Militärschlag nur als Reaktion auf einen nordkoreanischen Angriff, nicht aber als Vorbeugung.
Die Bush-Regierung will nicht verhandeln, solange Nordkorea eingegangene Verpflichtungen nicht einhält. Das klingt prinzipienfest und ist angesichts des nordkoreanischen Vertragsbruchs verständlich. Doch verbleibt Washington damit als letzte Option nur die Isolierung Nordkoreas, die es über den Sicherheitsrat anstrebt. Die Isolierung eines schon weitgehend isolierten Regimes hat aber nur begrenzte Wirkung. Zudem sind Nordkoreas Nachbarn Russland, China und auch Südkorea der Meinung, dass eine Isolierung Pjöngjangs nicht in ihrem Interesse ist. Während sie allenfalls zu Sanktiönchen bereit sind, werden sie darauf drängen, Kims skrupellosem Regime die geforderten Sicherheitsgarantien zu geben.
Die Zeit arbeitet für Nordkorea. Treffen die Angaben des US-Geheimdienstes CIA zu, dann wird Pjöngjang bis zum Sommer genug Plutonium produziert haben, um seinen geschätzten ein bis zwei bereits vorhandenen Atombomben bis zu sechs weitere hinzufügen zu können. Aber derzeit scheint Washington keinen Plan zu haben, wie es mit Nordkorea umgehen soll. Vielleicht könnte die Bush-Regierung froh sein, wenn ihr wie Clinton ein neues Abkommen mit Nordkorea gelänge. Andernfalls hätte ausgerechnet diejenige US-Regierung, die als erste mittels vorbeugender Militärschläge „Schurkenstaaten“ von der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen abhalten wollte, Nordkorea den Besitz von Atomwaffen ermöglicht.
Mit schlimmen Konsequenzen. In Japan dürften die Stimmen lauter werden, die einen Raketenabwehrschirm und sogar eine eigene Atombewaffnung fordern. Dies wiederum würde in China Gegenreaktionen hervorrufen. Außerdem ist zu befürchten, dass Pjöngjang früher oder später die Technik zum Atombombenbau für harte Devisen oder strategische Kompensationsgeschäfte exportiert, vor allem um an Öl zu kommen. Nordkoreas Raketen sind schon heute eines der wenigen Exportprodukte des heruntergewirtschafteten Landes. Nach Geheimdienstberichten tauschte Nordkorea seine Raketentechnik mit Pakistan gegen die Fähigkeit zum Zentrifugenbau, der für die Entwicklung von Atomwaffen wichtig ist. So ist nicht auszuschließen, dass Diktatoren oder terroristische Gruppen eines Tages zu Partnern Nordkoreas bei Atomgeschäften werden.
Aus diesen Gründen wird sich die US-Regierung bald doch auf ernsthafte Verhandlungen einlassen müssen. Zudem ist es wahrscheinlich, dass in Washington noch einmal über militärische Optionen nachgedacht wird. Pläne hierfür sind noch von 1993/94 vorhanden. Schon jetzt gibt es vereinzelte Stimmen in den USA, die eine Chance für Verhandlungen ohnehin nur dann sehen, wenn Washington mit dem Aufbau militärischer Optionen Druck erzeugt. Weil „chirurgische Schläge“ gegen Nordkoreas Atomanlagen unkalkulierbare Risiken beinhalten, könnte die gegenwärtige Krise damit enden, dass am Besitz der Nuklearraketen nichts mehr zu ändern ist, sondern Nordkorea – gegen Hilfslieferungen – nur noch einem Exportverzicht der Atomwaffen zustimmt. Bis zur nächsten Krise. SVEN HANSEN