: Gestrandet, nicht gerettet
Die Arche – eine Hellersdorfer Suppenküche für Kinder – muss dichtmachen, wenn der Streit zwischen Senat und Bezirk um die Finanzierung der „freiwilligen sozialen Leistungen“ nicht bald beigelegt wird. Sie ist nur eines von vielen betroffenen Projekten
von WALTRAUD SCHWAB
Der Weg von der U-Bahn zur „Arche“, einem Kinder- und Jugendzentrum in Hellersdorf, führt nicht nur an Straßen vorbei, die nach Peter Weiss, Kokoschka oder Nelly Sachs benannt sind, sondern auch nach Janusz Korczak. Welche Hoffnung sich mit der Benennung nach ihnen verbindet, erschließt sich in dieser Plattenbautristesse nicht.
Korczak, Pädagoge und Waisenhausgründer, dessen Erziehungsideen von der Utopie einer friedfertigen, klassenlosen Gesellschaft geleitet sind und der mit den Kindern des Waisenhauses zusammen vergast wurde, wirkt allerdings wie der Pate des Hellersdorfer Projekts, das derzeit in den Schlagzeilen ist. Denn wegen der Verschuldung Marzahn-Hellersdorfs hat der Senat die finanziellen Zuwendungen an den Bezirk gesperrt. 36.000 Euro fehlen der „Arche“ deshalb. Gestrandet, nicht gerettet.
Das Projekt steht für das zunehmende soziale Elend Berlins. Ist doch in der früheren Schule die erste Berliner Suppenküche nur für Kinder eingerichtet. Sie ist in einem Klassenzimmer im ersten Stock. Tierplakate sind über alle Wände geklebt: Elefanten neben Delfinen neben Hamstern. Von 13 bis 15 Uhr ist Essenausgabe. Mit ihren Schulranzen auf dem Rücken stürmen die Kinder in den Raum. Fischstäbchen gibt es mit Kartoffelpürree und Gurkensalat. „Ich hab keine Lust nach Hause zu gehen.“ „Niemand da.“ „Hier sind Freunde.“ Mit solchen Sätzen erkären die Kinder ihr Hiersein. „Mein Vater ist irgendwie Vorgesetzter, und weil meine Stiefmutter auszieht und die Waschmaschine und den Kühlschrank mitnimmt, verschuldet sich der Papa gerade“, erzählt ein 12-Jähriger. Sein Freund hat mit Freudigerem aufzuwarten: „Ich bin das erste Bundeskind in Neubrandenburg. Am 3. Oktober 1990 geboren.“ Marcel, ein 16-Jähriger, hingegen erzählt, dass er um 15 Uhr seine jüngeren Geschwister abholen muss. Und den Fischen müsse er auch was geben und ab und zu mit dem Hund raus und ihn streicheln. „Mein kleiner Bruder ist mein Glücksbringer. Der freut sich immer, wenn er mich sieht“, sagt Marcel.
Fast 120 Kinder kommen nach der Schule in die Arche. Jedes von ihnen hat eine Geschichte zu erzählen, in der etwas abwesend ist: Kein warmes Mittagessen ist ein Aspekt. „Zeit fehlt“, sagt Bernd Siggelkow, der Pastor der freikirchlichen Gemeinde, die die Arche im kinderreichsten Bezirk Deutschlands ins Leben gerufen hat. „Wir haben hier Wohlstandsarmut“, sagt der Pastor. „Fast jedes Kind hat seinen Computer zu Hause“, sehe aber seine Eltern kaum. In vielen Familien arbeiten Vater wie auch Mutter in schlecht bezahlten Jobs, wenn überhaupt beide Eltern zusammenlebten. Dazu kommen Alkohol und Depression, zwei weitere Formen der Abwesenheit. Der Zeitgeist vermittle den Kindern dagegen, dass sie alles ausprobieren und das Beste für sich beanspruchen sollen, sagt Siggelkow. Vorbilder, Leitlinien würden dagegen nicht mehr geboten. Das väterliche Gegenüber fehle. Deshalb suchten sich die Kinder diese in der Bravo, in der rechten Szene oder sonst wo.
Siggelkows Antwort auf das Vakuum: Gott, Jesus, der christliche Glaube. In bibeltreuer Form. Auf das Buch der Bücher lässt er nichts kommen. Der 38-Jährige, Vater von sechs Kindern, ist von seiner eigenen Geschichte in einer kaputten Familie auf St. Pauli geprägt. Irgendwann landete er bei der Heilsarmee. „Weißt du eigentlich, dass es jemanden gibt, der dich liebt?“, fragte ihn ein Heilsarmeeoffizier. Bis dahin hatte er es nicht gewusst. Das war sein Weg zu Gott. Der wird in der Arche neben Suppenküche, Nachhilfe, Computerkursen, Gesundheitsberatung, den Kindern auch geboten.
Die allerdings scheinen sich ein eigenes Bild von dem Ganzen zu machen. Siggelkow mögen sie. Viele rennen mit offenen Armen auf ihn zu. Auch auf die 15 ehrenamtlichen Mitarbeiter und vier Praktikanten. Zum Vater im Himmel haben sie eher ein zweckorientierteres Verhältnis. „Gott gibt uns Inspiration“, sagt der 18-jährige Tankwartlehrling Marcel. Heute ist sein freier Tag. Er hilft beim Essen austeilen. Sonst ist er HipHopper. Selbstverständlich singt er die Genesis. „Da sind Storys drin.“ Die ersten vier Zeilen seines neuen Songs hat er großzügig freigegeben: „Gott der Schöpfer aller Kreatur / formt die Menschen und schuf die Natur / mit großer Weisheit, stark an Kraft / aus Liebe und in unendlicher Macht.“
Außer der Suppenküche sind zwei ehemalige Schulräume für die Kinder zugänglich. In einem stehen Tischtennisplatte, Tischfußball und ein Sofa vor der notdürfig überstrichenen Blümchentapete. Ein paar Jungs spielen mit einem ferngesteuerten Auto. Einer tut so, als wolle er die anderen schlagen. „Ronny, du Arsch, hör auf. Du kriegst eine aufs Maul.“ Ronny tritt von da an nur noch gegen die Möbel. An den Wänden hängen Lieder, die Jesus und die Bibel preisen. Das Unbestechlichste, Universellste von allen: „Superbuch, Superbuch, Su-su-su-su-superbuch. Na klar, es ist wahr, alles Wichtige steht da.“ Es könnte auch der Duden sein, der hier besungen wird.
Siggelkow fühlte sich vor zehn Jahren nach Hellersdorf „berufen“. Seit 1995 arbeiten er und die Mitglieder der freikirchlichen Gemeinde am Aufbau der Arche. Der Bezirk hat ihnen die Schule mietfrei überlassen, für Betriebskosten und Instandsetzung müssen sie selbst aufkommen. 150.000 Euro im Jahr brauchen sie. Das meiste sind Spenden. Seit zwei Jahren bezahlt der Bezirk einen hauptamtlichen Mitarbeiter. Ihn, Siggelkow. Mit seiner Stelle stehen und fallen die akquirierten Drittmittel. Auch der Arbeit der Ehrenamtlichen fehlte bei seinem Wegfall jemand, der rechtlich die Verantwortung trägt. Das Projekt stünde vor dem Aus. 120 Kinder verlören eine Anlaufstelle, wo unter großem persönlichem Einsatz, wenngleich mit religiöser Zielvorgabe, soziale Defizite aufgefangen werden, für die es anderweitig offenbar keine Anlaufstellen mehr gibt.
Der Bezirk Marzahn-Hellersdorf ist in die finanzielle Bredouille gekommen, weil er im vorigen Jahr etwa 2 Millionen Euro mehr für die so genannten „freiwilligen sozialen Leistungen“ ausgegeben hat. Für das Gehalt von Siggelkow zum Beispiel. Weil der Senat den Bezirken ihren finanziellen Rahmen vorgibt, hat Sarrazin daraufhin die Überweisungen für Marzahn-Hellersdorf in diesem Bereich gesperrt und sich selbst zum Jugendstadtrat des Bezirks erklärt, der nun über die Vergabe des Geldes entscheidet. Eine Kampfansage des Senats gegen einen Bezirk? Die Projekte baden es aus. Deshalb wollen sie nun in guter Tradition Montagsdemonstrationen veranstalten. Auf der ersten waren 500 Menschen. Auf der nächsten, so die Ankündigung, werden es mehr sein.