: Die Welt erwacht
Vergesst Gegenkultur, Konsumverweigerung und ironischen Widerstand: Wir brauchen eine neue gesellschaftliche Kultur, die den ökologischen Faktor prioritär in den Lebensstil, den Konsum und das Wahlverhalten mit einschließt. Wir brauchen die Öko-Revolte
Der Mann: Albert Arnold „Al“ Gore, Jr., Jahrgang 1948, Berufspolitiker, Demokrat und Vizepräsident der Clinton-Administration (1993–2001). Gore (Silhouette rechts) steigt 2006 mit Hilfe des Dokumentarfilms „An Inconvenient Truth“ über den Stand der globalen Erwärmung zur Symbolfigur für den Kampf gegen den Klimawandel auf. Das Double: Gore erhält 2007 für „Eine unbequeme Wahrheit“ einen Oscar und am 12. Oktober zusammen mit dem Weltklimarat IPCC den Friedensnobelpreis. Die Kritik: Experten wie der alternative Nobelpreisträger Hermann Scheer kritisieren, dass Gore zwar das Problem ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit gebracht habe, aber keine Lösungen anbietet. Die Funktion: planetarischer Präsident. „Al Gore hat gezeigt, dass es noch Größeres gibt, als US-Präsident zu sein: Retter des Planeten“, schreibt Isolde Charim in der taz. Gores Engagement gelte der Sache, nicht dem Amt, damit zeige er, „dass es mehr gibt als Politik: Moral.“
In meinem Badezimmer hängt eine Titelseite des Guardian-Gesellschaftsteils G2 aus dem Jahr 2006. Darauf sieht man das übliche Foto der Erde (siehe rechts). Und dann steht da der Satz: Has the world finally woken up to climate change? Also in etwa: Klimawandel – ist die Welt endlich aufgewacht? Wenn ich morgens ins Bad schlurfe, dann gibt es auch Tage, da denke ich: Also nee, Leute, von „aufgewacht“ kann man ja nicht grade sprechen. Aber an den meisten Tagen denke ich: Jaaa, super, die Welt ist aufgewacht. Und jetzt geht es zunächst darum, dass ich wach bleibe. Dann steige ich in mein Auto und fahre die Kinder zur Schule. Und, nein, ich habe dabei kein schlechtes Gewissen.
Ich bin ein Neuer Öko. Das heißt, ich habe eine Grunderkenntnis und drei Ziele. Die Grunderkenntnis lautet, dass der Klimawandel ein „Weiter so“ nicht gestattet. Das war ein theoretisches Wissen, das bei mir im Jahr 2006 durch Al Gores Film „An Inconvenient Truth“ Teil meiner Lebensrealität wurde. Das Interessante und Schöne ist: Inzwischen könnte ich mir mein altes, langweiliges und ignorantes Scheißegal auch nicht mehr vorstellen, wenn die Erderwärmung nicht das zentrale Problem der Gegenwart wäre.
Mein erstes Ziel lautet: Bevor du mit den Chinesen haderst, kümmere dich erst mal um deinen eigenen Energieverbrauch. Mein Ziel lautet, den eigenen Energieverbrauch um 80 Prozent zu senken. Klar: Das ist ohne veränderte politische und gesellschaftliche Infrastruktur nicht zu schaffen, aber man kann sich einen gewaltigen Schritt darauf zubewegen. Das erwähnte Auto, das 3 Liter Diesel auf 100 Kilometer verbraucht, ist nicht der Weisheit letzter Schluss, aber eine deutliche Verbesserung zum Vorgänger, der 7 Liter brauchte.
Das zweite Ziel ist, als Teil einer Klima-Avantgarde durch bewussten Klimakonsum oder Konsumverweigerung so auf den Markt einzuwirken, dass moderne, effiziente Geräte dort Standard werden.
Das dritte Ziel ist, der Politik nicht nur vorzuwerfen, dass sie keine Klimapolitik macht, sondern die Politik (das meint auch Kommunen) durch Nachfrage dazu zu zwingen, ernsthafte Energie- und Klimapolitik anzubieten, statt Kohlekraftwerke zu genehmigen und zusätzliche Milliardengewinne von Energiekonzernen als prioritäres Politikziel zu betreiben.
Die Sorge, dass „das alles nichts bringt“, habe ich längst überwunden. Wenn man zum Beispiel einen energieeffizienten Fernseher hat statt eines stromfressenden, so bringt das eindeutig etwas, nämlich eine Energieeinsparung beim Fernseher – und damit eine Erhöhung der Effizienz des eigenen Haushalts. Allerdings muss ich zugeben, dass allein der Kauf eines neuen Fernsehers, der den Ansprüchen der Ökomoderne genügt, eine nicht ganz einfache Sache ist.
Was definitiv nichts bringt: dem neuen Lebensstil von Einzelnen oder Familien das Fehlen von klimapolitischer Relevanz vorzuwerfen. Man kann verändertes persönliches Leben nicht mit politischem Versagen relativieren oder gar denunzieren. Selbst dann nicht, wenn aus den Verhaltensänderungen am Ende nicht der damit angestrebte Politikwechsel erfolgen sollte.
Auch das Ausspielen von ökologischer und sozialer Frage ist der Sache nicht dienlich. Es geht nicht darum, dass diejenigen, die es sich nicht leisten können, ausgeschlossen werden. Es müssen auch gar nicht alle Ökos werden. Es geht darum, dass diejenigen, die es sich leisten können, den ökologischen Faktor in ihren Lebensstil integrieren. Es geht um die Okay-Verdienenden in den westlichen Industrienationen. Wenn sie handeln, hat das auch im ersten Schritt nicht nur symbolische, sondern reale Wirkung. Weil: 20 bis 40 Prozent aller Umweltprobleme gehen auf privaten Konsum in den Industrieländern zurück.
Um auf die Gewissensfrage zurückzukommen: Es geht nicht um „korrektes“ oder tugendhaftes Verhalten. Es geht auch nicht allein um Klimaschutz und Klimaanpassung oder nur um CO2-Minderung. Die Hinwendung zu einem energieeffizienten Leben ist letztlich nicht allein über Moral, Anreize und Strafen herzustellen. Auch nicht über ein Kulturprogramm oder darüber, dieses Leben als chic zu bewerben.
Es braucht in Deutschland eine neue Kultur. Die Integration eines ökologischen Faktors in alle Lebens-, Politik-, Wirtschafts- und Kunstbereiche ist ein Modernitätsschub und eine Verbesserung für den Einzelnen und die Gesellschaft. Dazu braucht es eine individuelle Veränderung des Denkens und Fühlens. Oder manchmal auch nur eine Weiterentwicklung: Kritisches Denken und Kaufen samt Kaufgefühlen sind nicht zwei unabhängig voneinander ablaufende Prozesse.
Der Einstieg in ein Neues Ökotum ist der bewusste Konsum, aber er ist viel mehr als Kaufen. Er ist eine lebensverändernde Bewusstseinserweiterung, führt zu einer persönlichen Lebensstilveränderung und durch Gruppendynamik zu der nötigen kulturellen Veränderung. Diese Klimakultur entsteht jetzt. Menschen haben angefangen, die Reduzierung ihres CO2-Abdrucks nicht als Verlust und Freiheitsbeschränkung zu empfinden, sondern die „Freiheit zur Selbstbeschränkung“ (Claus Leggewie) auszuprobieren und die guten Seiten dieses Modells zu entdecken. Einige dieser Menschen sind Unternehmer. Das wirkt sich auf ihre Unternehmen aus.
Wir sind in einer spannenden Phase, in der vieles Alte sich endgültig als überholt erwiesen hat, das meint das Beharren auf Post-Nachkriegs-Wohlstandsleben wie auch den realexistierenden Sozialismus und die alternativen Lebens- und Gesellschaftsmodelle der Post-68er-Jahre einschließlich der Vorstellung von Gegenkultur, Konsumverweigerung (70er, 80er) und ironischer Passivität (90er) als Widerstand. Wohlstand wird sich neu definieren müssen, Glück sowieso – nichts ist klar außer einem: Die Suche nach dem Neuen hat begonnen, weil sie beginnen musste.
Aber es stimmt: Es reicht nicht, dass kleine Veränderungen in einem Teil der Gesellschaft und Wirtschaft irgendwann Mainstream werden, wenn gleichzeitig politische Entscheidungen gegen die Energiewende fallen oder Klimakultur und Klimawirtschaft nicht entschlossen fördern.
Es wäre daher tatsächlich fatal, von uns selbst zu wenig zu erwarten. Neues Ökotum darf keine Laune des Zeitgeistes oder Wellness-Masturbation von Wohlstandskindern sein. Es handelt sich um nichts weniger als eine Weiterentwicklung der Vorstellung vom guten Leben und vom Zusammenleben der Gesellschaft und der Gesellschaften. Und es ist Voraussetzung, damit die Dynamik entsteht, um die nötigen Prozesse in Gang zu bringen.
Es dürften bei allen Problemen und Katastrophen, die in dieser Chronik beschrieben werden, kaum einmal Menschen in so glücklichen Jahren der Freiheit, des Friedens und des Wohlstandes gelebt haben, wie viele von uns sie seit 1968 (und manche etwas später) erleben. Daher kann es nicht heißen: Warum wir? Sondern: Wer, wenn nicht wir? Es ist kein Zufall, dass mit Daniel Cohn-Bendit ein europäischer Held der politischen und gesellschaftlichen Revolte von 1968 nun die Parole ausgegeben hat, dass die „gesellschaftliche Revolte, die wir brauchen, die Öko-Revolte“ ist.
Packen wir sie an.
PETER UNFRIED, 44, ist stellvertretender Chefredakteur der taz und Autor von „Öko“ (Dumont 2008) – „die Gebrauchsanweisung der Shopping-Krieger“ (Der Spiegel). Vor allem aber ist er der Bruder von Martin „Ökosex“ Unfried.