: „Freddie Mercury gab Aids ein Gesicht“
1983 herrscht die Vorstellung, Aids betreffe nur Homosexuelle. Der „Spiegel“ schreibt von „Schwulenkrankheit“. Peter Gauweiler fordert Zwangsmaßnahmen gegen Aidsinfizierte. Der Sexualforscher Martin Dannecker über die hysterischen Achtziger und neue Schwulenfeindlichkeit
MARTIN DANNECKER, Jahrgang 1942, Mitarbeiter am Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft, war Mitglied im ersten Nationalen Aidsbeirat der Bundesrepublik. 1990 erschien seine 1987 erhobene Studie „Homosexuelle Männer und Aids“. Er lebt in Berlin FOTO: ANJA WEBER
taz: Herr Dannecker, als Rock Hudson in den Achtzigerjahren und Freddie Mercury Anfang der Neunziger an den Folgen von Aids starben: War das eine Erleichterung für die von schwulen Männern getragene Aidsbewegung?
Martin Dannecker: Es schien so, wenn ich das richtig erinnere. Zwei prominente Männer, die beim Publikum beliebt waren, starben an Aids und gaben der Krankheit ein Gesicht. Aber die Dinge lagen komplizierter.
Inwiefern?
Rock Hudson taugte nicht zum schwulen Aushängeschild. Er wurde nicht als Mann identifiziert, der diese Krankheit von einem Mann hat, sondern als das, was er darstellte: der nette heterosexuelle Mann an der Seite von Doris Day.
Das passte zum Slogan der deutschen Aidspolitik: Aids geht jeden an.
In gewisser Hinsicht ja. Die von ihm verkörperten Rollen haben den Privatmann Rock Hudson sozusagen seiner Homosexualität entkleidet. Es war eine Erleichterung für die schwulen Männer. Wenn es jeden anging, dann lag der Schwarze Peter nicht allein bei ihnen. Bei Freddie Mercury, Gesicht der Band „Queen“, war es anders. Der war eine ohnehin schillernde Figur. In Hudson wollte man nicht den Schwulen sehen.
Über diese Krankheit hieß es ja zunächst, sie sei eine „Schwulenkrankheit“, wie der Spiegel 1983 fabulierte.
Ja, und der Tod von Rock Hudson hat dieses Bild von Aids in den Köpfen verändert, so dass aus einer Schwulen- eine Volksseuche konstruiert wurde.
Mit bösen Prophezeiungen!
Die Hysterie war heftig. Das ging in Deutschland bis hin zum CSU-Politiker Peter Gauweiler, der Zwangsmaßnahmen gegen Aidsinfizierte forderte. Ende 1982 war die Wahnvorstellung, dass diese Krankheit nur die Schwulen betrifft, längst in der Welt. Die amerikanische Gesundheitsbehörde hatte 1981 verlauten lassen, nein, es drohe keine Ansteckung, nur homosexuelle Männer seien betroffen.
Ist das nicht auch etwas richtig?
Das hat nichts mit einer Schwulenkrankheit zu tun, sondern mit den sexuellen Verkehrsformen homosexueller Männer …
… womit Sie analen Sex meinen?
Nicht allein. Auch das andere Verständnis von Sexualität unter homosexuellen Männern: dass Liebe und Sexualität nicht in eins fallen müssen, dass es offene Beziehungen geben kann.
Schwule gelten als promisk.
Ich mag das Wort Promiskuität nicht.
Weil es zu salopp klingt?
Nein, aber etwas Entscheidendes wird mit dieser Vokabel verwischt. Nämlich, dass Promiskuität etwas ist, was mit Beziehungsunfähigkeit einhergeht. Schwule Männer sind aber durchaus beziehungsfähig, auch wenn sie mehr Sexualpartner als Heterosexuelle im Laufe ihres Lebens haben.
Warum infizieren sich überproportional viele Schwule mit HIV?
Auch durch die unter Homosexuellen sehr viel höhere HIV-Durchseuchung. Die Wahrscheinlichkeit, Sex mit einem HIV-infizierten Mann zu haben, ist größer als die Chance, unter Heterosexuellen einen HIV-positiven Menschen zu treffen. So einfach ist das.
Wie fühlte sich schwules Leben auf dem Höhepunkt der Aidshysterie Mitte der Achtzigerjahre an?
Kämpferisch, sicher auch ratlos, prekär. Man glaubte, dass der Immobilienmarkt zusammenbricht, weil so viele Schwule reich seien und, sterben sie, keine Wohnungen mehr kaufen können. Oder dass eine Berührung mit der Haut eines HIV-Infizierten ansteckend ist. Alles Mögliche wurde imaginiert und fantasiert.
Schwulengruppen erkannten eine Pogromstimmung. Sie auch?
Nein. Die Atmosphäre war zwar nervös, aber weit entfernt von einer Stimmung der offenen Hatz. Die gab es nicht, der Spiegel spekulierte vergebens. Deshalb war es auch möglich, wie es Gesundheitsministerin Rita Süssmuth getan hat, auf Aufklärung und schwule Selbsthilfe zu setzen. Bis in fast jede Kreisstadt wurden Aidsberatungsstellen eingerichtet. Mit beruhigender Wirkung – und das war die Absicht.
Schwule sind seither in ihrer sexuellen Praxis umcodiert worden, oder?
Ja – und das musste auch sein. Was aber, bei aller Propaganda für Safer Sex, in der Wahrnehmung fast ausgeblendet blieb, war, dass Menschen an Aids starben. Sterben und Tod waren das Unterfutter der Prävention.
Immerhin: Aids hat, auch global, die erfolgreichste Selbsthilfebewegung im Gesundheitsbereich ins Leben gerufen. Macht Sie das stolz?
Freddie Mercury, Sänger und Songschreiber von Queen, leugnete seine Aids-Erkrankung bis einen Tag vor seinem Tod (24. November 1991)FOTOS: DAVE HOGAN/HULTON ARCHIVE/GETTY IMAGES
Das ist nicht das Wort, das ich gern verwenden würde. Aber dass, bei aller Trauer über all die Gestorbenen, Schwule gezeigt haben, was Brüderlichkeit meint, finde ich bemerkenswert.
Mit Süssmuth als Maskottchen?
Sie, ihr Ministerium und alle anderen Gesundheitsbehörden haben ein Gespür gehabt, dass der Staat sich besser nicht direkt in die Regulation schwuler Sexualität einmischt. Die ahnten, dass Schwule, aus bitterer Erfahrung, ein extremes Misstrauen dem Staat gegenüber mitbringen.
Sie haben damals für das Gesundheitsministerium sogar eine Studie über Schwule und Aids erarbeitet – manche versuchten Ihre Untersuchung zu boykottieren.
Was mich sehr geärgert hatte. Günter Amendt, Autor vom „Sexbuch“, meinte, dass man nicht zu vieles über schwule Sexualität herausfinden solle – denn wenn es publiziert würde, wäre es mit der Toleranz Homosexuellen gegenüber vorbei. Das sah ich nicht so.
Was war Ihnen wichtig?
Die Wahrheit zu benennen. Zu prüfen, ob es wirklich so gut gelingt, die Sexualität umzupolen auf Regeln, die Verzicht bedeuten, und das mögliche Scheitern zu thematisieren.
Weshalb ist dies Ihre Pointe?
Ich fand und finde bis heute, dass nur eine nüchterne Bestandsaufnahme der Tatsachen eine rationale Diskussion möglich macht.
Woher rühren die wieder steigenden HIV-Neuinfektionszahlen?
Die Propagierung von Safer Sex hatte Wirkung. Das lag aber nicht an den niedlichen Kondomspots im Kino, sondern an der Angst, an Aids zu sterben.
Safer Sex – ist das ein aus der Mode gekommenes Verhütungsmodell?
Was die Verwendung des Kondoms bei riskanten sexuellen Praktiken anbelangt, ist das Modell immer noch erfolgreich. Man sollte aber nie vergessen, dass Safer Sex nicht nur den Gebrauch eines Kondoms bedeutete.
Sondern?
Es war immer mehr als das. Safer Sex war auch immer ein Verzicht auf sexuell hochbedeutsame Praktiken, eine Reduzierung der Partnerzahl, eine Sexualität, die fast leibfeindlich war.
Und heute?
Die Medizin hat Fortschritte gemacht, und das hat auch die Angst vor einer HIV-Infektion gemindert. Und wir haben uns an Aids gewöhnt. So ist der Mensch gebaut: Ein großer Schrecken fühlt sich irgendwann weniger schrecklich an. Das bedeutet unter anderem, dass die sexuelle Distanzierung vom anderen geringer geworden ist.
Ist eine medikamentös eingestellte HIV-Infektion psychisch ähnlich zu regulieren wie die Zuckerkrankheit?
Aids (Acquired Immune Deficiency Syndrome) ist die medizinische Bezeichnung für eine Anfang der Achtzigerjahre zunächst in Nordamerika registrierte neue Krankheit, bei der die Infizierten sich einen Virus zuziehen, der ihre Immunabwehr lahmlegt. „Schwulenpest“ wurde die Krankheit genannt, weil sie zunächst extrem häufig bei homosexuellen Männern diagnostiziert wurde. Bereits 1983 war erwiesen, dass Aids eine Infektion zugrunde liegt, die sich ihre Träger über Körperflüssigkeiten zuziehen, vorwiegend über Sex. Frühe prominente Aids-Tote: Rock Hudson, US-Filmschauspieler, starb am 2. Oktober 1985 an Aids; Freddie Mercury, Sänger der Popband Queen, starb am 24. November 1991. Weltweit sind bislang 2,9 Millionen Menschen an Aids gestorben. Heute: Von 39,5 Millionen weltweit ist eine HIV-Infektion bekannt; 1 Prozent der 14- bis 49-Jährigen stecken sich pro Jahr neu an. Hauptgebiete der Epidemie sind alle Länder südlich der Sahara, Asien und Osteuropa. Aids ist seit zwölf Jahren nicht mehr zwingend sofort tödlich; es gibt eine Fülle von Medikamenten, die das Virus behindern, die Immunabwehr lahmzulegen. Die Neuinfektionszahlen sind dort am geringsten (Kanada, Neuseeland etwa), wo eine Infektion rasch durch einen Test verifiziert wird; medikamentös versorgte Patienten sind kaum infektiös. Einen Impfstoff zu entwickeln ist bislang nicht gelungen – aus den Labors heißt es einmütig: unmöglich!
Auf keinen Fall. Bei HIV geht es um eine Infektionskrankheit, die in der Regel sexuell übertragbar ist. Eine Infektion ist durchzogen von bewussten und unbewussten sexuellen Fantasien, weshalb es zu Gefühlen von Scham und der Vorstellung eines falsch gelebten Lebens kommen kann. Sexualität ist eben nicht ein Akt, der dem Trinken eines Glases Wasser gleichkommt.
Was erwarten Sie in Zukunft?
Es wird, hoffentlich, weitere medizinische Fortschritte geben. Das halte ich sogar für sicher. Bleiben aber wird, dass in einer HIV-Infektion sexuell aufgeladene Schuldgefühle wabern. Diese sind auch wegen des moralisierenden Aidsdiskurses weiterhin in diese Krankheit eingeschrieben.
Eine schweizerische Expertise sagt, dass ein HIV-Positiver mit Hilfe von Medikamenten sexuell nicht mehr infektiös ist. Er könnte ohne Kondom Sex haben. Warum wird dies nur für heterosexuelle HIV-Infizierte für möglich gehalten?
Ich vermute, dass man Schwulen mit einer Skepsis begegnet. Man denkt sich, dass sie mit diesem Befund leichtfertig umgehen und deshalb nicht die Voraussetzungen dazu hätten, das nicht vorhandene Risiko beim Sex ohne Kondom angemessen zu kommunizieren. Schwule Sexualität wird einseitig aus der Perspektive von Saunen, Klappen und Darkrooms verstanden. Dazu kann ich nur sagen: Da lugt wieder klassische Schwulenfeindlichkeit hindurch.
In Afrika und Asien ist Aids keine schwule Domäne. Scheitert eine gute Aidspolitik dort nur durch die Preispolitik der Pharmakonzerne?
Auch, aber nicht allein. In Afrika herrscht ein anderer Diskurs über Sexualität. Bei uns wird seit mehr als 100 Jahren auf allen Ebenen über Sexualität diskutiert. Wir haben eine Menge Fortschritte gemacht, das Unsagbare zum Sprechen zu bringen – und uns dabei über das Reden zu disziplinieren.
Zurück zu Afrika, bitte!
In Afrika ist Sexualität in viel größerer Weise – was paradox klingt – den Subjekten überlassen. Staat und Gesellschaft halten sich aus dem Diskurs über Sexualität weitgehend raus. Das hat neben allen objektiven Bedingungen die Implantation von Safer-Sex-Regeln erschwert. Ein Aidspräventionsprogramm zu etablieren ist aber ohne das Sprechen über Sexualität nicht möglich. Aidsprävention ist nicht nur individuell, sondern auch kollektiv gleichbedeutend mit einem Zwang zum Sprechen über Sexualität.
JAN FEDDERSEN, Jahrgang 1957, ist taz-Redakteur und Autor seit Ende 1984, zunächst in Hamburg, heute in Berlin. Hat die Aidsbewegung von Anfang an publizistisch begleitet.