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Archiv-Artikel

„Dann hält man besser das Maul“

1982 sagt der Göttinger Professor Bernhard Ulrich: „Die ersten großen Wälder werden schon in fünf Jahren sterben.“ Ulrich ist der „Erfinder“ des Waldsterbens. Heute redet keiner mehr darüber. Hat Ulrich damals übertrieben? Ein Waldspaziergang

WALDSTERBEN

Geschichte: 1980 thematisiert der Bundestagsabgeordnete Herbert Gruhl (CDU, später Grüne) als Erster das Waldsterben im Bundestag. 1981 titelt der Stern: „Über allen Wipfeln ist Gift“. Der Spiegel folgt mit: „Saurer Regen über Deutschland – der Wald stirbt“. 1982 ist das Thema allgegenwärtig und auch in den europäischen Nachbarländern angekommen. Wozu Wald? Wald filtert Wasser und Luft, er speichert das Treibhausgas Kohlendioxid. Er schützt vor Lawinen. Pflanzen und Tiere fühlen sich wohl in ihm. Ein Drittel der Bundesrepublik ist mit Wald bedeckt. Waldsterben heute: Anfang der 80er galten 60 Prozent der Wälder als lädiert. Heute sind es nach der offiziellen „Waldzustandserhebung 2007“ sogar 70 Prozent. Der Wald ist nicht gestorben, gesundet aber auch nicht. 49 Prozent der Eichen, 39 Prozent der Buchen, 28 Prozent der Fichten und 13 Prozent der Kiefern haben „deutliche“ Kronenverlichtungen, ihnen fehlt mehr als ein Viertel ihres Laubs. Statt Fichten und Kiefern kränkeln heute eher Eichen und Buchen, die mit Stickstoffen aus der Landwirtschaft und den Abgasen aus dem Verkehr nicht zurechtkommen. Die schwefelhaltigen Abgase, die den Nadelbäumen zusetzten, sind dagegen fast weg. Klimawandel: Auch der Klimawandel stresst den Wald.

Das sind hier überall schöne, grüne, große Bäume. Den winzigen Ort kennt kaum jemand: Bösinghausen, zwölf Kilometer entfernt von Göttingen. Es ist ein diesiger Septembertag, morgens um zehn Uhr. An alten Bäumen auf einer Wiese hängen die Äpfel dicht. Man wundert sich, dass die Bäume nicht zusammenbrechen. Obst, Wald, Wiese – ein Kitsch. Doch man kann die üppige Natur hier auch als Beweis nehmen. Dafür, dass der Wald lebt. Und wie! Rückblende: Spiegel-Titel 1981: „Der Wald stirbt“. War das alles Unfug? Heute redet über das Waldsterben kaum noch jemand.

Bernhard Ulrich ist der Mann, der die Bäume damals als Erster totgesagt hat. Fortan lernte jeder Schüler, was im sauren Regen steckt. Bürgerinitiativen druckten krüppelige Fichten auf Flugblätter. Das neue Angstwort „le Waldsterben“ machte 1982 auch in Frankreich Karriere. Und die junge grüne Abgeordnete Marieluise Beck überreichte Helmut Kohl nach seiner Wahl zum Kanzler einen struppigen Tannenzweig.

Ulrich wohnt in einer Sackgasse, am Rande von Bösinghausen. Siebzigerjahrehaus, davor ein Blumengarten, daneben eine verwaiste Hundehütte. Wer hineinwill, muss das Gartentor aus Holz aufstoßen, es ist grün vom Moos.

Ulrich steht in der Tür, der Mann ist mittlerweile 82 Jahre, er ist kleiner geworden. Er lacht, reicht die Hand. Seine Frau ebenso. „Machen wir die Weißwasserrunde?“, fragt er. Das ist ein Spaziergang, gut eine Stunde lang. Man kommt auf dem Weg noch an genau einem Haus vorbei, dann rechts und links Wiesen.

taz: Herr Ulrich, das sieht hier alles herrlich lebendig aus. Wie lebt es sich, wenn man von der Wirklichkeit widerlegt wird?

Bernhard Ulrich: Ich genieße die Natur, durchaus. Ich habe damals nur gewarnt. Der Wald wäre heute schwer geschädigt, wenn die Schadstoffe nicht prompt gemindert worden wären, die als saurer Regen auf die Bäume niedergingen. In Fabriken wurden Filter eingebaut, der Rauch der Kraftwerke gereinigt. Und in die Autos kam ein Katalysator. Ich würde sagen, ich war erfolgreich.

Er sagt das lächelnd, schüchtern. Weiter. Endlich in den Wald.

Haben Sie damals wirklich gedacht, dass es mit den Wäldern zu Ende geht?

„In den nächsten Jahren werden flächenhaft Waldbestände absterben“ – das ist das, was ich gesagt habe. Und das war auch so, im Erzgebirge, im Harz oder im Bayerischen Wald. Überall dort, wo die Wolken in die Kronen eingedrungen sind, war die Belastung stark. Das hatten wir seit Mitte der Sechzigerjahre wissenschaftlich untersucht.

Aber Sie haben das Wort Waldsterben in die Welt gesetzt – ein Fehler?

Klack, klack. Sein Wanderstock schabt leicht über dem kalkig-steinigen Weg.

Tannensterben, Fichtensterben, Kiefernsterben, das sind Begriffe, die immer wieder in der Literatur verwendet wurden. Das habe ich ja nicht erfunden.

Schämen Sie sich für die aufgeregte Diskussion damals?

Einen Fehler, den ich mir eingestehen müsste, sehe ich nicht.

War das Ökokassandratum wirklich nötig?

Zumindest haben wir dazu beigetragen, dass Maßnahmen ergriffen werden. Ich sage nicht, dass es das sonst nicht gegeben hätte, so maßlos bin ich nicht.

Ist der Wald heute gesund?

Der Boden ist noch belastet. Das Problem: Bäume, die nicht gut verwurzelt sind, kann der Wind auch leichter umwerfen. Oh ha, jetzt wird es schlecht …

Der Weg wird matschig. Ulrich ist ihn schon oft gegangen, im Winter, im Frühling, im Sommer, im Herbst. Ab und zu singen Vögel. Für den Städter, der nur Tauben kennt, ist es ein Stimmengewirr. Ulrich umgeht die Pfützen.

Ist der Wald mehr als ein Forschungsobjekt für Sie?

Ich mache da kein Brimborium drum, ich bin kein Esoteriker. Ich hätte mich auch mit Biochemie beschäftigen können. Aber der Wald fasziniert mich schon. Mit meiner Frau gehe ich jeden Tag eine Stunde spazieren. Wir glauben, dass wir darum noch so fit sind.

Genießen oder diagnostizieren Sie?

Also, man beobachtet dauernd. Wie wachsen die Pflanzen? Was verändert sich? Das beschäftigt uns – und darüber tauschen wir uns aus. Früher war nicht so viel Unterwuchs da.

Für den Laien ist es dichtes grünes Gestrüpp, kniehoch.

Das ist eine Folge der Stickstoffeinträge …

die mit dem Dünger vom Acker oder der Gülle aus dem Stall kommen …

… oder aus dem Auspuff. Diese sind zunächst mal gut, es wächst mehr. Aber noch weiß niemand, was das bedeutet. Womöglich werden die Gräser und Sträucher so stark, dass sie den Baumnachwuchs hindern aufzukeimen.

Wie erkenne ich, ob es einem Wald gut geht oder eben nicht?

Das spielt sich zumeist alles unter dem Boden ab, die Wurzeln wachsen nicht mehr so gut, aber auch die Kronen werden lichter.

Ulrich legt den Kopf in den Nacken.

Heute ist der Wald auf jeden Fall stabiler als früher. Allerdings bekommt er auch ein neues Problem. Den Klimawandel. Fichten vertragen Trockenheit nicht. Sie wird man ersetzen müssen, etwa durch Buchen.

Jetzt mündet der kleine Waldweg auf eine Straße, die an einem Bach entlangführt: dem Weißwasser. Ulrich strengt Reden und Laufen zugleich an. Lieber den Weg zurück als eine längere Runde!

Sie wirken milde. Waren Sie früher auch schon so gelassen?

Unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse haben mich schon aufgeregt. Das war ja erst der Anlass, an die breite Öffentlichkeit zu gehen. Mir war klar, dass wir nur so etwas bewirken können.

Und dann spukten den Deutschen Baumleichen durch die Köpfe. Oder Sätze wie „Erst stirbt der Wald, dann der Mensch“. Haben Sie damit gerechnet, dass Ihr Alarm außer Kontrolle gerät?

So doll habe ich das nicht empfunden. Aber sicher, die Medien haben das schon enorm aufgebauscht. Es ging völlig unter, dass nicht jede Region betroffen ist. Wo wir jetzt stehen, hier im Tal, da kamen die Schadstoffe doch gar nicht hin. Da hätte ich mehr dagegenhalten sollen.

Ulrich lässt den Buchstaben n am Ende eines Wortes weg, er sagt „scho“ statt „schon“. Man hört ihm seine schwäbische Herkunft immer an. Das lässt ihn besonnen wirken. Die taz meinte: „Es stirbt der Wald, es rutscht der Berg.“

Mal fürchten sich die Deutschen, dass der Wald stirbt. Dann glauben sie, dass der Erreger H5N1 den Grippetod bringt. Passen wissenschaftliche Erkenntnis und öffentliches Verständnis nicht zusammen?

Die Deutschen haben zum Wald jedenfalls ein besonderes Verhältnis.

Ein Jogger rennt vorbei.

Franzosen, Briten oder Italiener beziehen ihren Reichtum vom Meer, über Fischerei oder Handel. Die Deutschen mussten hingegen den Wald als Ressource nutzen, zum Schiff- und Hausbau, zur Salzsiederei, für die Köhlerei bei der Erzgewinnung. Darum wurde er wohl auch schon von den romantischen Dichtern zum Mythos hochgeschrieben.

Oder war das damals nur eine Hysterie der Linken? Am Waldsterben ließen sich die Probleme des technischen Fortschritts festmachen.

BERNHARD ULRICH, 82, Professor Dr. Dr. h. c. Lebt in Bösinghausen. War Bodenkunde-Professor in Göttingen und sprach bereits 1979 von „neuartigen Waldschäden“ FOTO: DBU

Der Mensch hat damals zum ersten Mal begriffen, dass er in der Natur gewaltige Veränderungen anrichtet, die wieder zurückschlagen. Das ging durch alle Bevölkerungsschichten.

Und wann kam die psychologische Wende?

Als die Schadstoffe weniger wurden. Das war das Erstaunliche: Der Wald hat ganz schnell reagiert. Das hat uns auch gezeigt: Man kann wirklich etwas tun.

Statt dass sich alle freuten, wurden Sie nun als Hysteriker beschimpft. Wie sehr hat Sie das verletzt?

Er bleibt stehen, das macht er jetzt immer öfter.

Schon sehr, aber das ist Teil des Geschäftes. Das muss man wissen. So ein Weg erfordert erstens viel Kraft und er bringt zweitens viel Feindschaft. Drittens kratzt er auch am Persönlichkeitsbild. Lange Zeit gestalten Sie die Diskussion mit, Sie führen Sie sogar. Dann kommt der Punkt, wo über Sie diskutiert wird – und da hält man dann besser das Maul. Einerseits bekommen Sie Preise, andererseits werden Sie in sämtliche Höllen verdammt.

Der Privatmann Ulrich hat Blessuren davongetragen?

Wenn man so etwas durchstehen will, muss die Familie eine tragfähige Grundlage sein. Sonst ist man schnell am Boden zerstört. Sie haben als Wissenschaftler immer ein Überzeugungsproblem …

Was heißt das heute, etwa für die Klimaforscher? Sind für ihr Glaubwürdigkeitsproblem nicht auch die apokalyptischen Szenarien von damals schuld?

Man muss die Gesellschaft doch informieren. Es funktioniert doch auch. So schnell wie das Klimaproblem ist ein Umweltproblem noch nie auf hoher politischer Ebene aufgegriffen worden. Aber natürlich gibt es in der öffentlichen Meinung auch Moden.

Eine Herbstzeitlose neben dem Feldweg, lila. Ulrich hat kein Bestimmungsbuch dabei, kein Fernglas. Er kennt die Pflanzen auch so. Aber man muss ihn fragen, damit er einem den Namen sagt. Er hält sich mit seinem Wissen bescheiden zurück.

Früher haben die Umweltprobleme die Leute auf die Straße gezogen. Warum gibt es das heute nur noch so selten?

Es passiert doch eine Menge. Nehmen Sie Bösinghausen. Da gibt es eine Initiative, damit die Bürger Solarzellen aufs Dach bekommen.

Der Spaziergang ist zu Ende. Im vertäfelten Wohnzimmer gibt es noch ein Glas Bioapfelsaft. Die Welt ist hier offenbar relativ in Ordnung, bis auf ein Problem: Ulrichs wissen dieses Jahr nicht, wohin mit den vielen Äpfeln aus ihrem Garten.

HANNA GERSMANN, Ökologie- und Wirtschaftsredakteurin der taz, hat als Kind Birken im Wald der Eltern gepflanzt.