: Traum des Lebens
Offiziell gibt es zehntausend Obdachlose in der Hauptstadt, tatsächlich dürften es weit mehr sein. Ärzte wie Jenny de la Torre sind oftmals das einzige Bindeglied zur Gesellschaft. Das Porträt einer Frau, die ihre Arbeit liebt
von ANGELIKA FRIEDL
Sie lebt und arbeitet in Berlin. Nicht in Peru, wo sie geboren wurde und aufwuchs. Lange Zeit dachte sie, ihr Wunsch zu helfen könnte erst in ihrem Heimatland in Erfüllung gehen. Dort wollte sie im Krankenhaus oder in einem Armenviertel arbeiten. Zweimal hat sie vergeblich versucht, in Peru als Ärztin zugelassen zu werden. Der bürokratische Dschungel erwies sich als undurchdringlich, der Abschluss als Diplommedizinerin, den sie 1982 in der DDR machte, wurde nicht anerkannt, auch ihr Facharzt für Kinderchirurgie nicht. 1997 gab es noch einmal Hoffnung. Die Regierung hatte sie zu einem Besuch nach Peru eingeladen, Regierungsvertreter teilten mit, es wäre doch gut, wenn es auch in Peru so eine Arztpraxis wie in Berlin gäbe. Von dem Plan hat sie nie mehr gehört.
So ist das eben“, sagt Jenny de la Torre, sie hat die Sache längst abgehakt. Sinnlos, über aussichtslose Geschichten nachzugrübeln. Außerdem, es hört sich sehr bestimmt an, „dort, wo man ist, soll man etwas machen“. Und der Zustand der Obdachlosen in Deutschland schockierte sie. Das Elend hier hat eine andere Dimension als in Peru, wo sehr viele Menschen von klein auf lernen, um das tägliche Brot zu kämpfen, aber auch zusammenhalten, sich aufeinander verlassen können. Hier zerfallen die sozialen Beziehungen oft sehr schnell, wenn die materielle Basis wegkippt.
Die neue Praxis ist schön. Kein Vergleich mit der alten, einem Kellerloch ohne Fenster, gerade mal zwölf Quadratmeter groß. Die Wände sind frisch gestrichen, die Jalousien türkisfarben, die medizinischen Geräte und die Computer sehen wie neu aus. Die gesamte Einrichtung besteht aus Spenden. An die Arztpraxis angeschlossen ist auch eine Zahnarztpraxis und eine Tagesbetreuungsstätte, Träger ist die gemeinnützige Gesellschaft für Gesundheit MUT, eine Tochtergesellschaft der Berliner Ärztekammer.
Die Zeitung soll doch mal schreiben, meint Schwester Angela, dass sie Socken brauchen, Baumwollsocken, damit die Leute nicht so schwitzen. Angela arbeitet, zusammen mit einer anderen Krankenschwester, schon seit acht Jahren im Team von Jenny de la Torre. Die Ärztin behandelt gerade einen Patienten. Er will unbedingt eine bestimmte Salbe für seine Wunde. Eigentlich braucht er die Salbe gar nicht mehr, aber wenn er sie unbedingt will, meint de la Torre, dann bekommt er sie eben.
Die katholische Studentengemeinde ruft an, die Ärztin soll demnächst einen Vortrag halten. Dann ruft der American Club an und kündigt eine Kleiderspende an. Abends und an den Wochenenden ist Jenny de la Torre oft auf Benefizveranstaltungen, hält Vorträge und wirbt als Botschafterin für das „Verbundnetz der Wärme“, einer ostdeutschen Initiative zur Unterstützung ehrenamtlicher Tätigkeit.
Als Kind hat sie viel Quechua gesprochen. Ihre Familie war von Nazca im Tiefland 3.200 Meter hoch in die Anden nach Puquio gezogen. Das Land in Puquio ist karg und das Elend groß. Am ärmsten sind die Indígena. Der Rassismus der Spanischstämmigen arbeitet sich an ihnen ab. Mit ihren Hüten und Tüchern sehen die Indianer komisch aus, sagen die Leute. Jenny würde am liebsten für sie europäische Kleidung besorgen, dann würden alle erkennen, dass es keinen Unterschied gibt.
Das Elend empört sie, treibt sie an, sie will es nicht hinnehmen. Eines Tages erkrankt die Mutter. Kurz nach der Ankunft des Arztes kommt ein Nachbarsjunge, sein Vater hatte einen Herzanfall. Jenny und ihre Familie streiten sich mit dem Jungen um den einzigen Arzt, den es in der ganzen Region gibt. Das Kind weiß nach diesem Vorfall, dass es Ärztin werden will.
Die Familie von Jenny de la Torre ist nicht wohlhabend, aber es reicht, um der Tochter ein Studium zu ermöglichen. Sie zieht nach Ica, einer größeren Stadt, mit warmem Klima und einer Universität gesegnet. An der Universität muss sie zwei lange Jahre verschiedene Kurse belegen, um das Medizinstudium überhaupt beginnen zu können. Das Geld der Eltern kann nicht alle Kosten decken. Vor allem die medizinischen Bücher sind teuer. Abends fängt sie an, Kinderbekleidung zu stricken, um sie dann zu verkaufen.
Zufällig hört sie von der Möglichkeit, durch die Regierung der DDR ein Stipendium für ein Medizinstudium in Deutschland zu erhalten. Sie bewirbt sich bei der Botschaft und bekommt das Stipendium. Endlich liegt sie den Eltern nicht mehr auf der Tasche. Die DDR erscheint ihr fast wie ein kleines Paradies. Monatlich erhält sie 280 Mark. Für jeden Studierenden gibt es eigene Mikroskope, und keiner muss mehr Eidechsen für den Präparierkurs fangen. Nur für die teuren Bücher arbeitet sie wieder, als Küchenhilfe, beim Bau und als Übersetzerin.
„Die Menschen akzeptieren, wie sie sind.“ Sagt sie so einfach. Auch wenn sie nach einer zehntägigen Sauftour mit bepinkelter Hose erscheinen. Ihnen sagen, „Sie haben so hübsche blaue Augen“ oder etwas Ähnliches. Einen Zugang zu ihnen finden, ihnen das Gefühl geben, dass doch ein Stück Würde geblieben ist. Irgendwann fangen sie an, wieder an sich zu glauben, auch wenn man selbst nicht mehr glauben will.
Ein Großteil der Patienten ist alkoholabhängig oder drogensüchtig oder beides. Am Anfang ihrer Tätigkeit, im Jahr 1994, schickte Jenny de la Torre ihre Patienten voller Enthusiasmus gleich beim ersten Besuch zum Entzug in die Krankenhäuser. Sie erschienen dort aber meistens nicht. Jetzt testet sie die Willenskraft der Menschen erst einmal. Nur wer zu einem zweiten vereinbarten Termin in die Praxis kommt, erhält eine Chance, eine Überweisung in ein Krankenhaus. Mit Alkoholmissbrauch hatte sie früher keinerlei Erfahrung, wollte auch nichts damit zu tun haben. Mittlerweile kann sie damit umgehen, erklärt sie. Aggressive Haltungen lösen sich auf, sobald die Patienten spüren, dass man ihnen Akzeptanz entgegenbringt.
In der ersten Zeit plagten sie Alpträume, die Arbeit erschien ihr als ein großes Loch, das sie zu verschlingen drohte. Langsam gewöhnt sie sich an die Menschen, an den Geruch, an die ruppige Sprache. Nein, sie leidet nicht an einem Helfersyndrom, sie „ist nicht die Liebe vom Dienst“. Distanz ist notwendig. Sie zeichnet zwei getrennte Kreise auf ein Blatt Papier, um die Distanz zu verdeutlichen. Für ihre Rolle findet sie das Bild der Leiter. Eine Leiter, die für einen Ausstieg aus dem Elend benutzt werden kann. Vor fünf Jahren erhielt sie für ihre Tätigkeit das Bundesverdienstkreuz.
Aber, sagt sie, ein ruhiger Mensch sei sie ganz und gar nicht, zu Hause könnte sie manchmal auf den Tisch hauen. Sie lacht über ihre eigene Formulierung. Schnell spricht sie, die deutschen Wörter rollen manchmal wie spanisch dahin, wenn die Zungenspitze die Zähne berührt. Sie liebt ihre Arbeit. Ihre Stimme hüpft auf und ab, wenn sie über ihre Patienten erzählt.
Etwa zwanzig Obdachlose besuchen täglich die Praxis. Jenny de la Torre behandelt Ekzeme, versorgt offene Wunden, trennt angewachsene Socken ab. Die Promotionstouren durch die Krankenhäuser und Vereinssäle von Berlin sind manchmal lästig, aber eben auch wichtig. Kein Lampenfieber verhagelt ihre Vorträge. Reden halten ist Routine geworden. Alles ist gut, wenn es nur Spenden bringt.
Ihre Identifikation mit dem Leid anderer Menschen speist sich aus der Erinnerung an ihre Kindheit. Sie konnte es nicht ertragen, dass die Nachbarskinder nur immer Getreidebrei mit etwas Salz aßen, dass Menschen an harmlosen Krankheiten starben, weil sie kein Geld für Medikamente hatten. Vielleicht ist ihr auch das eigene Leid stets gegenwärtig. Als kleines Mädchen erlitt sie Verbrennungen am ganzen Körper, lag fast zwei Jahre lang im Krankenhaus von Ica.
Bei ihrem letzten Besuch in Peru hat ihre Heimatstadt Nazca sie zur Ehrenbürgerin ernannt. Presseberichte über ihre Arbeit drangen bis nach Peru. Der Ruhm, die Auszeichnungen gleiten aber an ihr ab. Nur ein bestimmtes Erlebnis bringt sie aus der Fassung. Sie ging durch die Straßen von Nazca, die Menschen, vor allem Kranke luden sie zu sich ein. Aber die Kranken wollten keine Medikamente von ihr, sie wollten sie nur anfassen, ihre Hand berühren, als wäre sie eine Heilige, deren Präsenz allein schon für eine Heilung ausreicht.
Unangenehm waren ihr diese Berührungen. Hilflos stand sie den Kranken gegenüber. Was kann sie als einzelne Person schon ausrichten? Warum richten diese Menschen ihre Hoffnungen auf sie? Die Erinnerung würde sie am liebsten wegschieben. Wer hält es schon aus, Hoffnungsträger tausender zu sein? Die professionelle Erzählhaltung, das Bild der energischen Frau bricht für einige Augenblicke zusammen, ihre Stimme wird immer leiser. Schließlich steht sie auf, lächelt, wie entschuldigend, und meint: „Man muss immer stark sein.“
ANGELIKA FRIEDL, 42, lebt als freie Journalistin in Berlin. Daneben schreibt sie an ihrem ersten Fantasyroman