Leise Stimmen in der Wildnis

Die Zahl der Europäer und US-Amerikaner, die im Kriegsfall im Irak bleiben, ist eher gering

aus Bagdad PHILIPP MAUSSHARDT

Sage mir, wo du wohnst, und ich sage dir, wer du bist. Die wenigen Europäer und US-Amerikaner, die sich zur Zeit noch in Bagdad aufhalten, teilen sich grob in zwei Gruppen: Die hier sein müssen, weil ihr Job es so verlangt, und die hier sein wollen, weil ihr Gewissen es so fordert.

Die erste Gruppe – Delegationsmitglieder, Journalisten und UN-Vertreter – hat sich vorzugsweise im Al-Rashid-Hotel niedergelassen, der luxuriösesten Herberge, die der Irak zu bieten hat. Vor allem der Blick vom Dach des Hotels ist weltberühmt geworden, seit Peter Arnet seine CNN-Kriegsberichte im letzten Golfkrieg von hier aus per Satellit in alle Wohnzimmer sendete.

Unten in der Eingangshalle ist die zweite Sehenswürdigkeit des Al-Rashids zu bestaunen: George Bush senior in Marmor als Fußbodenmosaik mit dem Satz: „Bush ist ein Verbrecher.“ Wer das Hotel betritt, muss ihn mit Füßen treten.

Das Al-Fanar-Hotel, näher am Zentrum der Stadt gelgegen, hat dagegen seine besseren Tage hinter sich. Die Teppichböden sind verschlissen, aus den Duschköpfen sprüht das Wasser in alle Richtungen und bisweilen verirrt sich eine Kakerlake bis hinauf in den siebten Stock. Unten im Hotelfoyer schlägt ein Affe in seinem Käfig Purzelbäume und ein alter Papagei pfeift markdurchdringend alle halbe Stunde, pünktlich wie die Uhr.

In den 55 Zimmern wohnt seit einiger Zeit ein buntes Volk aus Friedensaktivisten und Mitarbeitern von Hilfsorganisationen. Auch der deutsche Liedermacher Konstantin Wecker und seine kleine deutsche „Friedensdelegation“ logierten im al-Fanar.

Das Frühstück dient als Nachrichtenbörse: „Wir haben heute ein Meeting mit einer buddhistischen Gruppe“, sagt eine alte Dame aus den USA, von deren T-Shirt der Satz mahnt: „War ist not the answer“ – Krieg ist nicht die Antwort. Am Nachmittag will sie irakische Kriegsopfer treffen „und heute Abend singen wir hier im Hotel. Kommt ihr auch?“

Die US-Amerikaner stellen mit rund 20 Friedensaktivisten die zur Zeit größte Gruppe. „Voices in the wilderness“ – Stimmen in der Wildnis – haben sie sich genannt, als sie vor acht Jahren ihre erste Tour in den von Krieg und Embargo zerstörten Irak organisierten. Seither sind sie hier in Bagdad, und ihre Mitglieder verpflichten sich, mindestens einen Monat im Land auszuharren.

Ted Sexauer hat sein Rückflugticket offen gelassen. Für den 56-jährigen Vietnamkriegsveteran aus Kalifornien ist es die erste Reise in den Nahen Osten und er freut sich, als ihn ein deutscher Friedensaktivist fragt, ob er mit ihm durch den Basar laufe. Ted fühlt sich noch ein wenig unsicher. „Die Leute schauen mich manchmal mit Hass in den Augen an,“ glaubt er zu erkennen, „aber ich kann sie verstehen.“

Seit Ted als Hubschraubernotarzt im Vietnamkrieg das große Sterben sah, fühlt er „Mitleid mit allen, die unter den Bomben zu leiden haben, besonders unter den Bomben meines Landes.“ Ted hat sich den „Friedensveteranen“ in den USA angeschlossen, nun will er den Irakern zeigen, dass nicht alle Amerikaner diesen Krieg wollen. „Die meisten Leute in den USA haben ja gar keine Ahnung, was Krieg wirklich bedeutet. Sie sitzen vor dem Fernsehen und schauen sich Kriegsfilme an.“

Der Chef der irakischen „Organisation für Freundschaft, Frieden und Solidarität“, Abdul Razq al-Hashimi, hatte vergangene Woche ein ausgefülltes Programm. Der früherer irakische Botschafter in Deutschland empfing 12 ausländische Friedensdelegationen, denen er allen sein standardisiertes Eingangsplädoyer hielt. Fazit: „Irak ist nicht schuldig.“

Seine Begrüßungsrede hielt er vor buddhistischen Mönchen aus Japan ebenso wie vor einer Parlamentsdelegation aus der italienischen Provinz Kampanien oder südafrikanischen Muslimen. Über all diese Treffen steht anderntags in der einzig englischsprachigen Zeitung des Landes, dem Iraq daily, dass man „übereinstimmt in der gemeinsamen Überzeugung, die amerikanische Aggression abzuwehren“.

Bisweilen begegnen sich die Gruppen in den Vorzimmern der Macht. Während die einen noch die Hände zum Abschied schütteln, wird schon die nächste Delegation zu Tarik Asis herein gebeten, der als moderater Statthalter seines Herren gilt und darum die Rolle des Grußaugusts zugeteilt bekam. Oder aber man trifft sich, als habe eine unsichtbare Geisterhand Regie geführt, plötzlich an einem Morgen vor dem Tor der UNO-Vertretung in Bagdad wieder – zu einer „Spontandemonstration“ gegen das Embargo. Vorbereitete Transparente werden ausgerollt, die südafrikanischen Muslime rufen finstere Parolen, und ein italienischer Parlamentarier der Partei der „kommunistischen Wiedergeburt“ überschlägt sich mit seiner Stimme: „Bush fuck, Bush fuck, Bush fuck!“

Jenseits des Delegationstourismus haben es nur die Amerikaner von „Voices in the wilderness“ geschafft, sich aus der Umklammerung durch den irakischen Staat zu befreien. Vielleicht gilt die wild zusammengewürfelte Gruppe aus Veteranen, Studenten, Kirchenleuten und Angehörigen von Opfern des 11. Septembers den offiziellen Stellen als zu exotisch. Man lässt sie in Ruhe und hat ihnen nicht einmal einen der sonst üblichen „Begleiter“ zur Seite gestellt. Selbst ihre Flugblätter, die sie in Englisch und Arabisch beschriftet unter den Irakern verteilen, unterliegen keiner Zensur.

„Wir sind gekommen, um zu erfahren, wie die Menschen im Irak unter Krieg und Sanktionen leiden“ steht auf einem Blatt, das an Passanten vor dem Armarya-Bunker in Bagdad verteilt wird. Kristina Olsen hat das Flugblatt mit unterschrieben als eins von vier Mitgliedern der US-Organisation „Peaceful Tomorrow“, die für eine Woche in den Irak gefahren sind. Sie alle haben Angehörige beim Attentat am 11. September verloren – Kristinas Schwester Laurie starb im Flugzeug der American Airlines, das der Attentäter Mohammed Atta in einen der Twin-Towers steuerte. Kristina hat ihre Gitarre mitgebracht und singt auf den Stufen des Bunkers, in dessen Innern beim letzten Golfkrieg 408 Zivilisten starben, ein Friedenslied: „Liebe heißt der Schlüssel …“.

Am Tag davor war Kristina Olsen zu Besuch bei einer Frau und ihren Kindern gewesen, deren Mann und Vater im letzten Krieg gestorben ist. „Eine der Töchter führte mich zu ihrer Mutter. Wir nahmen uns beide bei den Händen und weinten. Es tut mir so Leid, sagte ich. Das war ein heilender Moment.“

Die Krankenschwester und Sängerin aus Boston hat nicht nur heilende Momente erlebt: „Ich habe hier Menschen getroffen, die mir mit Hass begegneten. Aber ich kann das verstehen, unsere Regierung ist dabei, dieses Land anzugreifen“, sagt Kristina. Einmal, da habe sie Angst bekommen, während sie in einem Auto saß, eingekeilt auf einer Kreuzung von anderen Wagen. „Aus allen Richtungen trafen mich feindliche Blicke. Da habe ich sie angelächelt und das Peace-Zeichen gemacht. Auf einmal strahlten alle und reckten ihre Daumen in die Höhe“.

Wer das Hotel betritt,muss das Bodenmosaik„Bush ist ein Verbrecher“mit Füßen treten

Im „Irak Peace Team“ sammeln sich zur Zeit diejenigen, die auch im Kriegsfall im Irak ausharren wollen. „Nicht um einen Märtyrertod zu sterben“ sagt Jürgen Hahnel, 42, bislang der einzige Aktivist aus Deutschland, „sondern um als Zeuge die Kriegsverbrechen zu dokumentieren“. Hahnel, der „rein rechnerisch“ davon ausgeht, den Angriff der Amerikaner zu überleben, hat trotzdem sein Testament geschrieben.

Seine kleine Reisetasche wog nicht viel, als er vergangene Woche, mit einem Dreimonatsvisum ausgestattet, in Bagdad landete. Ein paar T-Shirts, Medikamente und einen Wasserfilter hat er mitgenommen. Auch im Winter trägt Hahnel nur Plastikschlappen ohne Socken. Zu Hause wohnt er in einem Bauwagen am Stadtrand von Tübingen. Seinen Platz in der „Wagenburg“ hat vorübergehend ein anderer eingenommen.

Hahnel hat all sein Geld in Dollar umgewechselt. Als er sich in Bagdad den amerikanischen Aktivisten vorstellt, regieren sie auf den Deutschen zunächst verhalten. Ob er sich nicht ein paar Schuhe kaufen könne? Hahnel versteht und geht erst einmal auf den Basar.

Treffpunkt der Aktivisten ist die Lobby im Al-Fanar-Hotel. Dort kursieren auch die Gerüchte: „1.000 Italiener sollen auf dem Weg hierher sein“, will einer gehört haben, und ein anderer liest den Bericht aus einer irakischen Zeitung vor, wonach „100.000 lebende Schutzschilde“ sich in Jordanien sammeln und in den Irak reisen wollen. Tatsächlich aber ist die Zahl der im Kriegsfall im Irak zurückbleibenden US-Amerikaner und Europäer eher gering. Hundert, mehr sind es noch nicht.

Die meisten Europäer werden, bevor die Bomben fallen, das Land verlassen. Der deutsche Fußballtrainer Bernd Stange, der seit November letzten Jahres die irakische Nationalmannschaft betreut, hat sogar im Vertrag einen Passus, der ihm die Flucht im Kriegsfall erlaubt. „Wenn ich nach einem Krieg zurückkomme, werde ich wohl nur noch einige meiner Jungs antreffen“, befürchtet er.

In der ehemaligen deutschen Botschaft, die nur mehr als Außenstelle der deutschen Vertretung in Amman fungiert, hat man vorsorglich die Mauern verstärkt, und der Chef der einzigen deutschen Hilfsorganisation mit festem Sitz im Irak, Alexander Christoph von den „Architekten für Menschen in Not“, hat seine Lebensmittellager „gut aufgefüllt“. Was er und seine Frau tun werden, wenn die USA angreifen? „Wir wissen es noch nicht, aber planen für verschiedene Szenarien“.

„Ich habe mein Rückflugticket in der Tasche“, sagt der Vietnamveteran Ted Sexauer und findet es doch „unendlich traurig, dass die Bevölkerung sich diesem Krieg nicht einfach entziehen kann“.