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Archiv-Artikel

Sittenbild mit Damen

Aus dem Instrumentenköfferchen geplaudert: Die Biografie der Saxofonistin Alicia Castro erinnert an „Anacaona“, das erste Son-Frauenorchester Kubas. Ihre deutsche Nichte Ingrid Kummels notierte die Memoiren der 82-Jährigen, die ein Stück Zeitgeschichte spiegeln, als Kuba noch Vorposten der USA war

von DANIEL BAX

Es war das erste Frauenorchester Kubas. In den Dreißiger- bis Fünfzigerjahren sorgte es in ganz Südamerika für Furore, der Ruf drang selbst bis nach Europa. Es setzte sich im Kern aus sieben Schwestern zusammen, allesamt Töchter eines chinesischen Vaters und einer baskischen Mutter aus Havanna. Für ihre Biografie hat die deutsche Journalistin Ingrid Kummels ihrer Tante Alicia Castro, einst Saxofonistin und Bassistin der Gruppe „Anacaona“, deren Lebensgeschichte abgelauscht. Aus diesen Erinnerungen entstanden ist das Porträt eines der ungewöhnlichsten Ensembles seiner Zeit.

Dabei verdankte die Gruppe ihre Gründung eigentlich einer Laune der Geschichte. Denn als der damalige Diktator Machito 1930 nach Studentenunruhen die Universität von Havanna schließen ließ, musste Cuchito, die Zweitälteste der Schwestern, ihr Studium abbrechen. Statt eine Laufbahn als Zahnärztin einzuschlagen, wurde die damals 23-jährige Cuchito zur Direktorin eines Frauenorchesters, dessen Mitglieder sie zumeist aus dem Kreis ihrer eigenen Familie rekrutierte, und mit denen sie die Haushaltskasse sanierte.

Bis zu sieben Schwestern spielten zeitweise in der Formation mit, die zunächst in den Straßencafés von Havanna aufspielte. Im Chinesenviertel aufgewachsen, wo der Vater einen Lebensmittelladen betrieb, wurde das ungewöhnliche Team bald ins Ausland eingeladen, nach Kolumbien und Mexiko, nach New York und Paris. Wohl, weil ihr Teint einen indigenen Anschein erweckte, gaben sie sich den Namen „Anacaona“ – nach einer mythischen Indianerin, die den spanischen Kolonialherren Widerstand geleistet haben soll.

Der Son, der auf Kuba anfangs noch als vulgäre Musik der Unterschicht galt, wurde damals – auch durch seine Erfolge im Ausland – gerade salonfähig. Eine Gruppe, die ausschließlich aus Frauen bestand, stellte da schon eine kleine Sensation dar und wurde in der Presse als Sinnbild gesellschaftlicher Emanzipation gefeiert. Der Weg in die Welt war damals kurz: Vor allem im Winter war Havanna voll von Amerikanern, die sich dort am Wochenende vergnügten. Dreißig Flüge gingen an manchen Tagen von Miami nach Havanna, und Jazz-Größen wie Nat King Cole oder Cole Porter reisten dorthin, um kubanische Stars wie „Anacaona“ aus der Nähe zu hören.

Die vielen Anekdoten von Alicia Castro fügen sich in ihrer Biografie zu einem Sittenbild jener Epoche. Sie erzählen auch von Rassismus: Auf Kuba, wo nur Hellhäutige Zutritt zu den Clubs der Oberschicht hatten, worunter besonders Yolanda litt, die dunkelste der Schwestern. Und in den USA, wo der Vater für eine Woche auf Ellis Island einquartiert wurde, weil für Chinesen gerade ein striktes Einreiseverbot galt. Es wirft ein Licht auf die Rolle der Musikergewerkschaften, die überall eifersüchtig über ihre Pfründe wachten, und die einer Karriere der Kubanerinnen in den USA im Wege standen. Es liest sich streckenweise aber auch fast wie ein Schlüsselroman, zumindest wie ein Who’s who der damaligen Zeit.

In Paris verkehrten „Anacaona“ in den gleichen Etablissements, die von Marlene Dietrich und dem Herzog von Windsor frequentiert wurden, und sie standen mit Django Reinhardt auf der Bühne. In den USA pilgerten sie zu den Jazzclubs, um Cab Calloway oder Dizzy Gillespie zu hören. Und in Brasilien spielten sie 1958 für das WM-Team um den jungen Stürmerstar Pelé auf.

Viel dreht sich aber auch um private Amouren und die vielen Verehrer, die den Schwestern ihre Aufwartung machten. Doch jede Ehe drohte das Orchester auseinander zu reißen. So verließ Millo, die Schlagzeugerin, die Gruppe, um mit ihrem deutschen Mann Karl zusammenzuleben, den sie in Venezuela kennen gelernt hatte. Das war im Schicksalsjahr 1958 auf der Südamerika-Tournee, wo die Schwestern in Brasilien von der „Revolution der Bärtigen“ in ihrer Heimat erfahren. Von dieser zeigen sie sich rasch begeistert. Zurück in Kuba, konvertiert Ada, ausgerechnet die Katholischste der Familie, zur glühenden Anhängerin der Bewegung, und tauscht alle Heiligenbilder im Haus gegen Ikonen der Revolution aus. Doch der Machtwechsel bedeutet für die Musik einen tiefen Bruch. Als mit den Casinos und Bordellen auch viele Auftrittsstätten geschlossen werden, setzen sich Stars wie Celia Cruz ins Ausland ab. Diejenigen, die wie „Anacaona“ bleiben, absolvieren fortan ihre Auftritte vor Schülern, Studenten und Rentnern, oder in Musikerbrigaden vor Strafgefangenen und Landarbeitern. Statt schmalziger Balladen sind jetzt Loblieder auf die Revolution gefragt, und glamouröse Auslandstourneen fortan unmöglich. Doch einige der Schwestern musizieren weiter und gehen erst in Rente, als sie 1989 zum „nationalen Kulturgut Kubas“ erklärt werden.

Heute leben drei von ihnen noch immer in einem Haus, inmitten von Medaillen, Pokalen und Erinnerungen an ihre große Zeit. Eimer, Schüsseln und Büchsen stehen herum, um das Wasser aufzufangen, das durch das undichten Dach tropft, aber ab und zu wird noch immer das deutsche Klavier ins Wohnzimmer geschoben, wenn sich besonderer Besuch ankündigt. So war es auch, als Ingrid Kummels, die erwachsene Tochter der verstorbenen Millo, erstmals wieder ihre vier Tanten Ada, Ondida, Xiamara und Alicia in Havanna aufsuchte, und diese aus ihren Instrumentenköfferchen zu plaudern begannen.

Für ein großes Publikum, das sich im Zuge des „Buena Vista Social Club“-Booms für Kubanostalgie zu begeistern vermochte, mag das Buch vielleicht zu spät kommen. Aber für Liebhaber des Genres eröffnet die Lektüre ein schillerndes Stück Zeitgeschichte, als Kuba noch modern war.

Alicia Castro: „Anacaona. Aus dem Leben einer kubanischen Musikerin“. Econ Verlag, 400 S., 22,95 €. Zusätzlich erschien ein Bio-Picture auf DVD.