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Archiv-Artikel

Ein Bier im Kühlschrank

Familienökonomie: Mit Tim Etchells und der Gruppe Forced Entertainment aus Sheffield hat die Volksbühne neue Hilfstruppen auf der Suche nach einem Ausweg aus dem Zynismus gefunden

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Die Volksbühne entwickelt Familiensinn: Der eine bringt seine Eltern mit auf die Bühne, der andere seinen Sohn. In „Atta, Atta“ ließ Christoph Schlingensief Irm Hermann und Josef Bierbichler Mutter und Vater spielen, die zwar peinlich berührt von den Wutausbrüchen seiner Kunst sind, ihn aber dennoch treulich besuchen (siehe taz vom 25. 1.). Wenige Tage zuvor war Tim Etchells, Autor und Regisseur der englischen Gruppe Forced Entertainment, mit Videos seines Sohnes im Prater zu sehen gewesen.

Der Junge spielte mit einem durchgebrochenen Zwieback die Begegnung zwischen einem Eisberg und der Titanic nach. Das, kommentierte Tim Etchells, war sicher die ökonomischste Verfilmung dieser Geschichte, die es je gab. Dann erzählte der Vater von den ersten Kinobesuchen mit seinem Sohn, der reinste Horror: Die Trickfiguren für Kinder hätten der skurrilen Sexualität der Skulpturen der Chapman-Brothers in nichts nachgestanden. Das ganze Kindervertrauen in die Welt brach vor diesen Figuren zusammen. Erwachsene im Allgemeinen und Unterhaltungsindustrie im Besonderen, denkt man danach, sind Sadisten.

Kinder zu haben verändert zweifellos den Blick auf das Leben. Etchells und seine Gruppe Forced Entertainment, die sich Anfang der Achtzigerjahre in Sheffield gründeten, sind jetzt biografisch mehrfach ins Stadium der Familienfürsorge eingetreten. Sheffield scheint ein geeigneter Ort, darüber nachzudenken, was dies bedeutet.

In seiner essayistischen Performance „Instructions for Forgetting“ verwebt Etchells, der bloß an einem Tisch sitzt, erzählt, ab und zu ein Video zeigt, viele solcher Geschichten, die meisten angeblich ein Geschenk von Freunden. Das scheint anfangs bloß der Blick in eine Werkstatt des Sampelns. Eine Freundin aus Kroatien erinnert sich an Übungen des Katastrophenschutz und wie alle Kinder immer hofften, etwas Aufregenderes als das Überleben im Bunker spielen zu dürfen. Immer öfter steuern die Geschichten auf einen Punkt zu, der sich nicht erzählen lässt, eine Erfahrung, die nicht teilbar ist; was einer während des Krieges tat, wie man mit dem Tod fertig wird, wie man Gewalt versteht. Letztlich schält sich dabei die Frage nach der Repräsentation von Gewalt heraus.

Die englische Performance-Gruppe hat den Weg der Sprache gewählt. Ihr postdramatisches Theater ist eine bewusste Verweigerung gegenüber der Macht der Bilder. Was dabei aber in einen kontinuierlichen Strom der Erzählung übersetzt wird, ist eine Beschreibung der inneren Landschaften, in die sich die öffentlichen Bilder wie eine Matrix eingeschliffen haben. Dieser Besetzung des Denkens und Wünschens durch einen kollektiven Hunger nach Drama und Soap gilt auch das Stück „The Voices“, das jetzt im Prater Premiere hatte und mit dem die Gruppe im April wiederkommt.

Der Raum, den Forced Entertainment für das Erzählen beansprucht, war nie groß. „The Voices“ treibt den Minimalismus weiter; nicht einmal einen Quadratmeter misst das Podest, das die Performer nacheinander für ihre Monologe besteigen. Kein Raum zum Agieren. So festgenagelt an einen Punkt stellt man sich auch ihr Leben vor, das Träume von Omnipotenz hervorbringt: Wie ich die Stadt vom Bösen säuberte. Wie ich in meiner Garage etwas erfand, das alle Probleme des öffentlichen Transports löste. Wie nach meinem Tod keiner vor Kummer mehr schlafen kann. Wie die Begegnung mit dem Tragischen die Kunst meines Tanzes tief und ausdrucksvoll werden ließ.

Natürlich malt man sich als Zuhörer unentwegt die Gegenbilder aus: Wie der, der davon träumt, sich mit seiner Magnum von allem zu befreien und ein gänzlich unabhängiges Leben zu führen, in dem höchstens noch eine Dose Bier im Kühlschrank seine Verbindung mit den kleinlichen Bedürfnissen der übrigen Menschen darstellt, tatsächlich ein armes Würstchen ist – mit nichts als einer Dose Bier im Kühlschrank. Das ist sehr vorhersehbar. Verglichen mit den „Instructions for Forgetting“, die die gewohnten Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem vielfach aufs Neue durchstoßen, wirken die Monologe von „The Voices“ wie ein Workshopergebnis. Die Performance bleibt eindimensional an der Oberfläche der Kritik, was Soap-Opera aus unserem Leben gemacht hat.

Dennoch ist die Zusammenarbeit von Volksbühne und Forced Entertainment, die René Pollesch in den Prater eingeladen hat, viel versprechend. Denn sie entsprechen sich in einer Produktivität, die der Verzweiflung und dem Zynismus der Inhalte trotzt. Man könnte eigentlich Schluss machen, wir haben das schon durchdacht, es ist eine absurde Situation, wir kommen da nicht mehr raus, das erzählen sie wieder und wieder. Und trotzdem fühlt man sich eingewickelt und aufgehoben in diesem Strom der Worte, der fällt und steigt wie Ebbe und Flut.

„The Voices“ im Prater der Volksbühne, 27. und 28. Januar