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Archiv-Artikel

„Ich habe nie Distanz gewahrt“

Interview GERHARD DILGERund KATHARINA KOUFEN

taz: Herr Salgado, was hat dieses Foto aus einem Slum in Bombay mit Globalisierungskritik zu tun?

Sebastião Salgado: Alles. Diese Megastädte wie Bombay sind das Ergebnis eines ökonomischen Modells, das den Bedürfnissen der unterentwickelten Welt überhaupt nicht gerecht wird. Dieses Rohr bringt das Wasser in den reichen Süden von Bombay. Die Leute in den Armenvierteln im Norden gehen auf sauberem Wasser, aber das Wasser, das sie trinken, ist nicht sauber. Sie bohren Löcher, aber das Grundwasser unter den Elendshütten ist durch ihr eigenes Abwasser verdreckt. Das saubere Wasser fließt an ihnen vorbei.

Lässt sich dieses Bild auf Brasilien übertragen?

Unbedingt. Vor 40 Jahren lebten vier Fünftel der Brasilianer auf dem Lande und ein Fünftel in den Städten. Heute ist es genau umgekehrt – wie in Indien. Es ist ein schreckliches Modell. Das Agrobusiness zahlt die Arbeiter auf dem Land schlecht, und durch den Einsatz moderner Technik werden immer weniger gebraucht. Den Menschen bleibt nichts anderes übrig, als in die Stadt zu ziehen.

Die brasilianische Regierung versucht gerade, dieses Modell zu überwinden. Ist das auf nationaler Ebene überhaupt möglich?

Sicher nicht zu hundert Prozent. Präsident Lula übernimmt ein Land, das bereits komplett ins globale System integriert ist. Er muss den Versuch einer internen Umverteilung machen, denn von 175 Millionen Brasilianern sind gerade einmal 25 Millionen Konsumenten. Das ist sehr mühsam. Aber anders geht es nicht, ein revolutionärer Bruch würde heute nicht funktionieren.

Warum sind Sie zum Weltsozialforum gekommen?

Ich möchte mein Projekt nachhaltiger Entwicklung vorstellen, das seit 1991 läuft. Es ist das wohl größte Projekt zur Regenerierung der Umwelt in Brasilien. Wir haben 500.000 Bäume geplanzt, einheimische Sorten aus dem atlantischen Regenwald, und es funktioniert im Zusammenhang mit kleinbäuerlicher Landwirtschaft.

Sie haben in den 70er-Jahren Wirtschaftswissenschaften studiert. Das war die Zeit, als mit den „Chicago Boys“ der neoliberale Wirtschaftskurs in Lateinamerika ausprobiert wurde. Wie kommt es, dass Sie trotzdem einen ganz anderen Weg gewählt haben?

Okay, ich hatte tasächlich Vorlesungen bei einem dieser Chicago Boys, aber ich komme auch aus einer ganz besonderen Realtiät, und das ist Brasilien – mit all seinen Widersprüchen und all seiner sozialen Bedürftigkeit. Ich habe angefangen zu fotografieren und habe eigentlich von Anfang an nur soziale Themen fotografiert. Wirtschaftswissenschaften sind ja eigentlich Sozialwissenschaften, und wenn man die Wirtschaft von einer anderen Seite betrachet, landet man beim Sozialen. Meine Fotografie hat mich dazu geführt, die Welt von dieser anderen Seite zu betrachten.

Als Sie mit Ihrer Arbeit anfingen, gab es den Begriff „Globalisierung“ da überhaupt schon? Hatten Sie den im Hinterkopf?

Nein, in keinster Weise! Erst als ich an meinem Buch „Arbeiter“ arbeitete, begriff ich, dass sich die Welt in eine bestimmte Richtung entwickelt.

In welche?

Die Beziehungen zwischen den Arbeitern und den Produkten, die sie herstellten, und zu dem Kapital, das sie dafür benötigten, sind umgekrempelt worden. In meiner Region im inneren Brasiliens wurde eine riesige Palette von Nahrungsmitteln angebaut: Reis, Bohnen, Milch, Fleisch und so weiter. Die ganze Region hat sich in eine Monokultur verwandelt, heute wird da nur noch Rindfleisch im großen Stil geliefert, Rindfleisch schlechter Qualität. Als ich Fotos in diesen Regionen machte, kapierte ich: Das ist die Globalisierung.

Und dann?

Ich begann mit meinem nächsten Projekt, „Migration“. Denn ich sah, Migration ist eine Folge dieser veränderten Arbeitswelt. Migration ist das zweite Kapitel der Globalisierung.

Wird es ein drittes Kapitel geben?

Ja. Das dritte Kapitel soll sich mit der Beziehung des Menschen zu seinem Planeten beschäftigen. Heute sind wir „Stadttiere“. Wir haben keine Beziehung mehr zu Erde, Wasser, den Tieren – denken Sie zum Beispiel an BSE. Die sind ein Resultat unserer gestörten Beziehung zur Natur. Wir müssen unsere Beziehung zur Natur erneuern.

Wie reagieren Sie auf die gelegentlich vorgebrachte Kritik, Ihre Bilder seien kitschig?

Man muss jede Person in ihrem Kontext betrachten. Ich bin aus Minas Gerais. Das ist der Bundesstaat von Brasilien, der am meisten „Rokoko“ ist, würde ich sagen. Meine Sicht der Welt ist also eine sehr barocke. Ich bin weder Modernist noch Postmodernist in meinem Stil. Mein Stil ist Mainstream, traditionell, meine Art zu Fotografieren ist einfach, normalerweise habe ich einen zentralen Fokus auf meine Bilder. Licht – das begeistert mich. Barockes Licht.

Sie unterscheiden sich also allein durch Ihre Herkunft von einem deutschen Fotografen?

Was glauben Sie – könnte ich wie ein deutscher Fotograf Bilder machen? Wenn ich doch nicht aus einer deutschen Realität komme? Nein. Das wäre ein sehr künstlerischer Stil, sehr exakt, sehr präzise mit vielen direkten Informationen. Ich komme eben aus einer Rokoko-Welt.

Jetzt argumentieren Sie aus der Sicht des Künstlers. Die Kritik kommt aber eher aus einer politischen Ecke: Sie stellen Armut verkitscht da, wo Armut doch grausam ist.

Das konmt eben darauf an, wer die Kritik übt.Wenn ich einen Kritiker aus Paris oder aus Berlin nehme, sagt der vielleicht, die Fotografie muss grausam sein, muss Armut auf eine rohe Art zeigen. Normalerweise haben diese Menschen Armut nie gesehen. Mir kommt es sehr grausam vor, dass die Menschen denken: Was hart ist, muss auch so dargestellt werden.

Die Kritik kommt also nur aus Europa?

Hier in Brasilien wurden meine Fotos nicht als Kitsch betrachtet, in Indien auch nicht.

Sind Sie als Fotograf Teil der Bewegung, oder sollten Sie eine gewisse Distanz bewahren?

Ich habe nie eine Distanz gewahrt. Ich habe so viel über die Bewegung der Landlosen in Brasilien gemacht, ich gehöre zu dieser Bewegung dazu. Ich lebe in einem interaktiven Universum zwischen dem Fotografen und seinen Motiven.

In Porto Alegre wird viel über den drohenden Irakkrieg gesprochen. Im Jugoslawienkrieg haben die Medien grausame Bilder gezeigt und sind zum Teil heftig dafür kritisiert worden.

Diese Bilder waren in diesem Fall nötig, weil unsere Gesellschaft sie braucht, um sich zu informieren, um zu provozieren, die ganze Debatte in der Gesellschaft über den Krieg – das war nötig, auch um Spenden für die Kriegsopfer lockerzumachen, um eine Antikriegsbewegung zu schaffen.

Was bedeutet für Sie das Weltsozialforum?

Für mich ist das ein Beispiel für Demokratie, für Partizipation, für Diskussion. Wir müssen es schaffen, solche Foren überall auf der Welt durchzuführen. Ich habe 1973/74 in Portugal gearbeitet, als das Land gerade aus der Diktatur kam. Portugal hat zwei Jahre lang nicht gearbeitet – Portugal hat diskutiert! Ich habe beim Metzger zwei Stunden gebraucht, um mein Fleisch zu kaufen, weil die Menschen in der Schlange und die Verkäufer die ganz Zeit nur diskutieren wollten! Wir befinden uns in einer ähnlichen Situation mit der Globalisierung. Wir müssen diskutieren!