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Archiv-Artikel

Marguerite und die Männer

Vor 125 Jahren wurde Walter Kollo geboren. Anlass für Enkelin Marguerite, die Bedeutung einer Musikerdynastie mit vier Generationen wieder ins Bewusstsein Berlins zu rufen. Aber nun arbeitet sie nicht länger für die Männer – sondern für die Musik

von WALTRAUD SCHWAB

Geht ein Krebs rückwärts? Geht er nicht in Wirklichkeit seitwärts? Letzteres würde mehr zu Marguerite Kollo, der Krebsgeborenen, passen: Sie ist zur Seite getreten. Für die Männer in ihrer Familie. Für Walter, den Großvater. Berliner Operettenkomponist. Viel verehrt und eigensinnig. Dann für Willi, ihren launischen Papa, Schöpfer vieler Evergreens. Und für den egozentrischen Bruder René. Den Opernsänger, der 25 Jahre lang von seiner Schwester gemanagt wurde. Drei Männer, drei Generationen, eine Berliner Musikerdynastie. Jeder ein Star. Nicht so die Frauen. Noch nicht.

Zwei Jahre älter als ihr Bruder ist Marguerite Kollo. Blond. Attraktiv. Scheu. Die Haarfarbe steht für die Sehnsucht nach Schönheit. Das Auftreten für Selbstbewusstsein. Die Scheu aber für Widersprüche. Nachdem sie jahrelang für die drei Männer die Frau im Hintergrund war, tastet sie sich nun selbst heran ans Rampenlicht. Vorangegangen sind Enttäuschungen. „Hassliebe“, sagt Marguerite Kollo, sei das Familienmuster. Wo viel Reibung ist, ist manchmal auch Feuer. „Fetzen sind geflogen bei uns.“ Kompliziert sind die Vater-Tochter-Beziehung, das Bruder-Schwester-Drama. „Es hat Zeiten gegeben, da habe ich meinen Vater auf der Straße nicht gegrüßt“, sagt Marguerite. Auch mit ihrem Bruder spricht sie seit 1996 kein Wort mehr. Er hat sie zur Seite geschoben, als es um die Rettung des Metropol-Theaters als Operettenspielstätte in Berlin ging. Sie hatte das Know-how, die Kontakte, er hat ihr das Heft aus der Hand gerissen. „Was geht’s dich an“, waren seine Worte. Am Ende scheiterte er. „René, wo steht er heute? Er hat sich ins Abseits manövriert mit seinem Egoismus“, sagt seine Schwester.

Walter – Gassenhauer

Familiäre Verstrickungen sind nicht ohne komische Tragik. Marguerite Kollos Lebenswerk besteht darin, dass sie die Männer ihrer Familie jahrelang unterstützte. Niemand kennt deren künstlerisches Schaffen so gut wie sie. Damit geht sie nun an die Öffentlichkeit. Weil die Männer mittlerweile jedoch abwesend sind, wird sie für sie sprechen. So, wie sie es will. Das ist ihre Chance. „Ich hab mich noch nie so frei gefühlt, weil die Fesseln weg sind. Ich arbeite nicht mehr für die Männer, ich arbeite für die Sache“, sagt sie.

Heute vor 125 Jahren wurde Walter Kollo in Ostpreußen geboren. Er hatte Kirchenmusik studiert und lernte in Stettin, wo er sein erstes Engagement hatte, Paul Lincke kennen. Hingerissen von dessen eingängiger Musik und überzeugt, dass er das auch könne, zog er 1906 mit Frau und Sohn nach Berlin. Eine Erfolgsgeschichte, denn Walter Kollo trifft schon mit seinen ersten Liedern das Herz der Berliner. „Immer an der Wand lang“, „Max, du hast das Schieben raus“, „Die Männer sind alle Verbrecher“ sind Gassenhauer, die Kollo vertont hat. Unvergessene. Sagt einer die erste Liedzeile auf, gesellt sich die Melodie von selbst dazu. So funktioniert kulturelles Gedächtnis.

Kritik an der preußischen Obrigkeit war die Triebfeder der ironischen Kunst jener Zeit. Sie in harmlosen Texten so zu verpacken, dass alle sie verstanden, war die Herausforderung. Walter Kollo hat diesen Part seinen Textdichtern überlassen. Viele jüdischer Herkunft. Später wird Goebbels sagen, Walter Kollo habe sich nur mit „Judengeschmeiß“ abgegeben, erzählt die Enkelin, Marguerite Kollo. Scharfzüngigkeit allerdings wird mit den Liedern Walter Kollos trotzdem nicht in Verbindung gebracht, obwohl er mit Heinrich Zille befreundet war und als Entdecker von Claire Waldoff, der singenden Berliner Schnodderschnauze, gilt.

Noch vor dem ersten Weltkrieg begann Walter Kollo Operetten zu komponieren. Am Ende seines Lebens werden es mehr als vierzig sein. „Wie einst im Mai“ von 1913 ist eine, die dem aus der Mode gekommenen Genre eine gewisse Langlebigkeit gibt, weil der Titel zum melancholischen Aphorismus für verlorene Jugend wurde. Mehr Anerkennung gibt es bis in die Gegenwart für die Haller-Revuen im Admiralspalast, dem heutigen Metropol-Theater in der Friedrichstraße, für die Walter Kollo die Musik komponierte. Diese Shows mit ihren Bein zeigenden Tänzerinnen gelten als ein Beispiel für den im Aufbruch begriffenen Geist der Weimarer Zeit.

Walter Kollo war jemand, der Freude bereiten wollte, das Leichte lag ihm, das Momentane. Wenig verwunderlich, dass sich dahinter durchaus das Gegenteil verbarg: Schwermut. Schon im Ersten Weltkrieg ließ er sich nicht von der nationalen Euphorie anstecken, bei der Machtergreifung Hitlers ging er, zurückhaltend formuliert, in die innere Emigration. „Depression ist gemeint“, bestätigt Marguerite Kollo. 1940 starb er 62-jährig. Die Enkelin kann sich nicht an ihren Großvater erinnern, obwohl sie bei seinen Tod fünf Jahre alt war. Seine Melancholie hatte ihn bereits zu einem Abwesenden gemacht.

Dennoch: Längst lebte der Name weiter, war doch Willi Kollo schon seit Anfang der Zwanziger Jahre ebenfalls im Musikgeschäft. Bereits als Primaner musste er sich sein Schulgeld fürs Internat mit abendlichen Lesungen eigener Gedichte verdienen, weil sein Vater vergessen hatte, es zu bezahlen. Mit Abitur ging er zurück nach Berlin, wo sich sein leichtzüngiger Stil herumsprach und er für Trude Hesterberg, die Grand Dame der Berliner Kabarettszene, anfing zu schreiben. Obwohl sich spannungsgeladene Vater-Sohn-Konstellationen ankündigten, zog Walter Kollo den Sohn mit in sein Boot, als er von dessen Anerkennung vernahm. Er machte ihn zu seinem Texter. Die beiden waren erfolgreich, obwohl sie sich gegenseitig bekämpften. Es kam jedoch, wie es kommen musste: Der Sohn begann seine eigenen Lieder zu komponieren und besetzte damit das Terrain seines Vaters. „Nachts ging das Telefon“ oder „Einmal wirst du wieder bei mir sein“ sind bis heute bekannte Schlager von Willi Kollo.

Willi – der Vergessene

Im Krieg hat Willi Kollo zeitweise Schreib- und Aufführungsverbote. Nach dem Krieg ging er zeitgemäß den Weg des Vergessens. Allerdings durchaus auf ambivalente Weise. Er inszenierte musikalische Komödien, schrieb Schauspiele, machte Revuen. Als geschichtsinteressierter Mensch bezieht er sich dabei auf Figuren wie Faust oder Friedrich den Großen. Die Schuld- oder Verantwortungsfrage wird, wenn auch leichtfüßig und um drei Ecken, so dennoch berührt.

Dass sich die Kollos zu einem Berliner Künstlergeschlecht – Adlige der Moderne – entwickeln, verstand Willi Kollo, der 1988 starb. Deshalb baute er nicht nur einen familieneigenen Musik- und Bühnenverlag auf, sondern inszenierte in den 50er-Jahren mit bescheidensten Mitteln einen Film, in dem das Leben seines Vaters nachgespielt wurde. Seine Kinder René und Marguerite übernahmen dabei die Rollen seiner Eltern. Eine eigentümliche Klammer, die die Familie zusammenhalten soll. „So lang noch Untern Linden“ heißt der Streifen, den Marguerite Kollo zum 125. Geburtstag ihres Großvaters jetzt neu auf DVD herausgebracht hat.

Marguerite – Managerin

Marguerite Kollo spielt in dem Film nicht nur die schweigsame Ehefrau ihres Großvaters, eigentlich selbst eine Soubrette mit dem Künstlernamen Mizzi Josetti, sondern sie singt die alten Lieder und tanzt dazu. Gesang- und Tanzausbildung habe sie gemacht. „Aber abgebrochen“, wehrt sie ab. Das Rampenlicht soll ihr nicht gelegen haben. Die Tochter fängt an, im Hintergrund aktiv zu werden. Als Skriptgirl, Sekretärin, Buchhalterin, Produzentin, Nachlassverwalterin, Archivarin, Promoterin, Managerin für Großvater, Vater und den aufsteigenden Stern, ihren Bruder. Sie ist eine Pionierin in diesem Gewerbe. Es habe ihr nichts ausgemacht, diese Rolle einzunehmen, sagt sie. Für ihren Seelenfrieden war es auch besser so. „Wollte ich mich künstlerisch präsentieren, wurde ich von der Männerriege weggedrängt“, meint sie nach einigem Zögern.

Heute weiß Marguerite Kollo, dass sie etwas zu geben hat. Erfahrung zum Beispiel. Wissen. Und Tradition. „Ich gehöre zur Generation, die reden müsste. Gerade jetzt in Vorkriegszeiten. Aber es hat mich bisher niemand gefragt.“ Sie hat die Bombennächte als Kind mitgemacht, sie hat miterlebt, wie es ist, wenn man von Tieffliegern beschossen wird. „Ausquartiert. Ausgebombt. Der schreckliche Krach der Panzer auf Kopfsteinpflaster. Das ganze Leid. Das Ausgeliefertsein. Solche Sachen“, sagt sie.

Als Kind sieht sie, wie die Städte kaputt gemacht wurden. Das Bild ist nicht ohne Symbolik für ihr Leben. „Ich habe ein ausgeprägtes Traditionsbewusstsein. Ich liebe Geschichte, ich liebe es zu wissen, wo ich herkomme.“ Dass sie diese Verwurzelung trotzdem immer suchen muss, das ist zu ihrer Lebensaufgabe geworden. Nicht nur wurde Berlin zerstört, sondern sie musste zeitweise auch um die Welt reisen, in Paris, in Mexiko leben, um ihre Familie überhaupt ertragen zu können. Nicht nur „haben die Männer in meiner Familie, die alle große Künstler sind, nicht verstanden, wer ich bin“, sondern heute fragt auch kaum jemand mehr ihre Expertise im Management und in der künstlerischen Qualität ab, weil man als Frau über 65 gar nicht mehr wahrgenommen wird. Nicht nur versteht Berlin nicht, dass Operette zum kulturellen Erbe der Stadt gehört, sondern sie muss als Frau im modernen Sinne – und lange gegen den eigenen Willen – auch ständig ihren Weg neu finden.

Nathalie, die Jazzerin

Dass sie aus all diesen Gründen zum Geburtstag des Großvaters den Film über dessen Leben, aber auch seine Musik und die ihres Vaters neu aufgelegt, ist aus Marguerites Sicht von daher nur konsequent. Ihre Herkunftsfamilie ist ihr Verpflichtung. „Es ist eine Kultur, die ich in mir trage.“ Und es ist ihr Leben. Wobei sich ein neues Kapitel bereits ankündigt.

Denn in den Treptower Clubs steht mittlerweile die vierte Generation dieser Berliner Musikerfamilie auf der Bühne: Nathalie Kollo, die Tochter René Kollos aus der ersten Ehe. Schon wieder eine, die dem Vater zur Konkurrentin wird. Seine Anerkennung blieb der Tochter versagt. „Ein Musikvulkan ist Nathalie“, sagt ihre Tante, die sie managt. Vor zwei Jahren ist die Nichte mit ihrem kleinen Sohn bei Marguerite Kollo aufgetaucht. Sie hatte keine Bleibe. So setzt sich die Geschichte voll privater Widersprüche fort. Neu aber ist die Möglichkeit der weiblichen Solidarität. Und nicht nur das, zeigt Nathalie Kollo doch auch künstlerische Rebellion: Sie singt Jazz.