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Archiv-Artikel

Eine schrecklich nette Familie

Ach, wir kulturfixierten Europäer! Immer wenn es rumst, reden unsere Politiker von geteilten Werten und einer gemeinsamen Geschichte. Dabei beschwören sie ein „Wir“, das zur Selbsttäuschung einlädt

Was, zum Teufel, meinen wir Europäer, wenn wir „wir“ sagen?Die nationalen Gegensätze haben sich als außerordentlich produktiv erwiesen

von JAN ENGELMANN

Wie kann es angehen, von Europa immerfort betrogen zu werden? Ich erinnere mich noch gut an jene kalte Silvesternacht, als wir mit klammen Fingern die frischen Euro-Scheine aus dem Automaten zogen. Das sollten sie also sein, die papierenen Würdenträger einer Gemeinschaft, welche sich unsere Zustimmung buchstäblich erkaufen wollte. Bezaubert von der knitterfreien Aura der neuen Währung, unterdrückten wir unsere Skepsis vor der superstaatstragenden Symbolik und gingen sofort daran, das Geld beim Portugiesen auszugeben. Es sollte zum vorläufigen Bruch mit der Idee Europas führen. Nicht nur waren die Preise unverschämt, auch erwies sich das Essen als pure Täuschung, als indifferent schmeckender Mischmasch aus den verschiedensten Zutaten. Statt landestypischer Küche kredenzte man uns einen kulinarischen Kompromiss. Wir zahlten schnell und hielten nach Hamburgern Ausschau.

Schon die erste Begegnung mit dem Euro taugte also zur Bestätigung jener Zweifel, die gegenüber dem Projekt „Europa“ gehegt werden. Erstens widersprach sie der Annahme, dass eine Vertiefung von Gemeinsamkeiten fast zwangsläufig ein gewisses Wohlgefühl erzeugt; zweitens widersprach sie der Idee, dass europäische Identität als ein emergentes Phänomen zu denken ist – eine „höhere“ Einheit, die über die reine Addition von Ingredienzien hinausgeht. Ginge es nur nach der Erfahrung jenes Abends, dann hieße die viel beschworene Finalität Europas schlicht: Falscher Hase mit Fadogeschmack.

Natürlich werden die europäischen Chefköche nicht müde, in Sonntagsreden das Gegenteil zu behaupten. Kein Gipfeltreffen, das nicht an geteilte Werte und Überzeugungen appellierte. In der Schlusserklärung von Kopenhagen sprach der dänische Ratspräsident Anders Fogh Rasmussen treuherzig von einer „Familie“, wo er doch eigentlich eine Versammlung raffgieriger Verhandlungspartner meinte. Mit Rücksicht auf die Türkei schenkte man sich zum ersten Mal das Tischgebet. Wenn dies ein Fest sein sollte, dann sicher eines, das einer beklemmenden Dogma-Verfilmung würdig gewesen wäre. Europa präsentierte sich als eine schrecklich nette Familie, die ihre inneren Konflikte nur mühsam unter dem Teppich hielt.

Für die USA ist dies nichts Neues. Beklagte schon Henry Kissinger, er wisse nicht, wen er anrufen müsse, wenn er mit Europa sprechen wolle, so dürfte Colin Powell am ständigen Besetztzeichen bei den europäischen Verwandten mittlerweile verzweifeln. Denn in deren Haus geht es drunter und drüber: Blair spielt weiterhin den braven Schwiegersohn, schielt aber bereits nach den Schmuddelkindern. Berlusconi und Aznar, die sich durch ihre tadellose Kleidung Lob und sanftes Kopftätscheln erhofften, hantieren mit klebrigen Fingerfarben. Die skandinavischen Cousinen sitzen wie immer leicht autistisch vor dem Fernseher, die lieben Niederlande sind schwer mit ihrer Pubertät beschäftigt, derweil die zweieiigen Zwillinge Chirac und Schröder rotweinbeschwipst das schmutzige Lied von der „Schicksalsgemeinschaft“ anstimmen und sich danach kichernd verziehen. Mit diesem infantilen Pack ist wahrlich nichts anzufangen, geschweige denn eine transatlantische Partnerschaft.

Damit wir uns richtig verstehen – der Familienzwist in der Irakfrage ist zu begrüßen. Und gerade die notorische Vielstimmigkeit, das ewige Hin und Her, Abwägen und Zaudern macht vielleicht den besonderen Charme europäischer Politik aus. Nun sind aber die Verhältnisse zurzeit nicht so, dass mit dieser Selbstgenügsamkeit irgendetwas gewonnen wäre. Kann ein ganzer Kontinent sich weiterhin verstecken hinter der Vielfalt seiner Länder und Machtambitionen? Darf ein Konstrukt wie die Europäische Union, gerade weil es engstirnige Partikularismen zu überwinden gedenkt, auf ein glaubwürdiges Bekenntnis zur Zusammenarbeit verzichten? Wie verorten wir uns eigentlich in einer Welt, die zwar in der subjektiven Wahrnehmung immer stärker zusammenrückt, aber in Wahrheit von neuen Grenzziehungen und voneinander abgesteckten „Kulturräumen“ geprägt ist? Und was zum Teufel meinen wir, wenn wir „wir“ sagen?

Klärungsbedarf ist also gegeben, das sehen auch die beteiligten Institutionen so. Walter Schwimmer, Generalsekretär des Europarates, hielt im April 2002 als Ergebnis eines Kolloquiums in Straßburg fest: „Wir haben verschiedene Nationalitäten, wir sprechen verschiedene Sprachen, leben in verschiedenen Städten und Regionen und haben unterschiedliche Traditionen, Symbole, Legenden und Mythen. Aber wir sind alle Erben einer europäischen Kultur, die durch eine rätselhafte und faszinierende Mischung von Diversität und Einheit tief gezeichnet ist.“

Man hätte es nicht schöner formulieren können. Vielfalt allerorten und dazu kommen unfreiwillige, weil: geerbte Dinge, die gar nicht erst im Einzelnen aufgeführt werden müssen, weil man sie ohnehin immer hervorzerrt, wenn gar nichts mehr geht. Antike, Aufklärung, Auschwitz – Zutreffendes bitte ankreuzen. Zweifellos sind diese historischen Erfahrungen prägend gewesen und eine dementsprechende Erinnerungskultur unverzichtbar, aber betrügt Europa sich denn nicht selbst, wenn es bei jedem Versuch einer auch nur ansatzweisen Selbstbestimmung immer sofort den Rekurs auf die Vergangenheit sucht?

Musste im Falle des ungebetenen Gastes Türkei noch das Christentum herhalten, so ist im Hinblick auf den ungeliebten George W. wieder der Humanismus dran. Diese reflexartige Bewaffnung mit Elementen einer „europäischen Kultur“ trägt zuweilen obsessive Züge. Weil uns im Gegensatz zum Einwanderungsland USA eine Zivilreligion und die damit verbundene optimistische Zukunftserwartung fehlt, neigen wir Europäer dazu, die Vielfalt von Erfahrungen und Traditionen als historische Bürde und unüberwindbares Hindernis zu begreifen. Was daraus folgt, kann man tatsächlich bei jedem Familienfest beobachten: Man hat sich nicht mehr viel zu sagen und blättert gelangweilt in vergilbten Fotos, die von besseren Zeiten zeugen. Was die Kommunikation so erschwert, ist vor allem, dass Amerikaner und Europäer niemals das Gleiche meinen, wenn sie sagen: „Du bist Geschichte.“ Bedeutet es hier ein Höchstmaß an Anerkennung für erbrachte Leistungen, so ist es drüben gleichbedeutend mit: Vergiss es, Alter, von dir ist nichts mehr zu erwarten.

Wir Europäer leben mit der ständigen Gewissheit, nicht gemeinsam handlungsfähig zu sein, weil es unserem „Wir“ offenkundig an Evidenz fehlt. Und das „Wir-Sagen“ ist ja insofern auch problematisch, als dabei die erste Person zwar im Plural spricht, aber heftig zwischen Einschluss und Ausschluss hin und her schwankt. Ein „Wir“ verheißt keine stabile „kollektive Identität“ (die für sich schon einen Selbstbetrug darstellt), sondern andernfalls eine vorübergehende Heimeligkeit. So war denn auch die lokalistische Dorfliteratur ein frühes Paradigma der europäischen Literaturgeschichte, nicht etwa ein universalistischer Gründungstext wie die Federalist Papers.

Daran erinnerte vergangene Woche der in Stanford lehrende Literaturwissenschaftler Franco Moretti, biografisch gesehen ein Grenzgänger zwischen den Kontinenten. Er referierte auf der Potsdamer Tagung „Realizing Europe“, die vom Einstein-Forum und der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft für Internationalen Dialog mit glücklicher Hand auf den Tag nach Rumsfelds Alt-Europa-Bashing gelegt wurde. Erwartungsgemäß versammelte sie ein imposantes Aufgebot an Euro-Skeptikern, Bush-Verächtern und den inzwischen obligatorischen „other voices“. In seinem luziden Vortrag sprach Moretti der europäischen Literatur zwar echte Vereinigungsfiguren (wie etwa Gabriel García Márquez für Lateinamerika oder Frantz Fanon für die postkoloniale Literatur Afrikas) ab, bezeichnete dies aber im selben Atemzug als völlig unproblematisch, weil sich das System der nationalen Antagonismen als „außerordentlich produktiv“ erwiesen habe. Die Differenzen zu bewahren und keinen Mischmasch zu erzeugen, war in dieser Lesart sicherlich eine europäische Erfolgsgeschichte.

Daraus sind allerdings keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Denn es kommt schon sehr darauf an, ob Diversität im Modus des Kulturellen (als gegebene Vielfalt von Möglichkeiten) oder im Modus der Politik (als Herausforderung für deren begründete Selektion) gedacht wird. Übertragen auf die gegenwärtig sehr prekäre weltpolitische Lage hieße ein positives Verständnis von Vielfalt, dass Europa endlich den Mut aufbringen sollte, eine gemeinsame Haltung einzunehmen, ohne gleich der realistischen Denkschule in die Hände zu fallen, die internationale Beziehungen nur in festen Einheiten, als Blöcke und Achsenmächte, als Loyalitäten und deren Verrat zu denken gewillt ist. Was wir dagegensetzen könnten, wäre eine Politik, die auf geduldige Aushandlungsprozesse setzt, nicht auf die eilige Staatsräson einer zunehmend einsamen Superpower. „Partnerschaft im Widerspruch“ ist, wenn man sich die Assoziationen zu einer langjährigen Ehe verbietet, ehrlich gesagt gar kein so schlechter Ausdruck dafür.

Wann, wenn nicht jetzt, wäre eine günstige Gelegenheit zu beweisen, dass es neben der „mythischen Reziprozität von Identität“ (Achille Mbembe), welche die Vereinigten Staaten von Europa und Amerika im ewigen Spiegelstadium miteinander vereint, auch so etwas gibt wie Interdependenz. Dies meint ein Bewusstsein von gemeinsamen Problemlagen und gegenseitiger Abhängigkeit, also ein Bewusstsein, das eher den Austausch vernunftgeleiteter Argumente befördert als die voreilige Schließung im Sinne eines „Wir“ gegen „sie“. Für ein Ende des europäischen Selbstbetrugs wäre es daher dringend geboten, endlich eine politische Identität zu artikulieren, die gegenüber der angeblich unhintergehbaren Kultur den Vorteil hat, verhandelbar und revisionsoffen zu sein. Seine Verwandten kann man sich in der Tat nicht aussuchen, aber sehr wohl, ob man ihre nervigen Rituale weiter mitmacht.