Kleine Insel mit zwei Bergen

Seit einem halben Jahrhundert gibt es im Fernsehen die „Augsburger Puppenkiste“, aber ihr kleiner Mythos verblasst immer mehr – schuld sind aufgeregtes Marketing und die moderne Konkurrenz

aus Augsburg ANJA MAURUSCHAT

Würde man Alice Schwarzer, Roland Koch, Nena und Christian Kracht an einem Tisch versammeln, worüber könnten sie sich friedlich unterhalten? Am ehesten vielleicht über Jim Knopf und den kleinen dicken Ritter Oblong Fitz Oblong, über Kater Mikesch, Kalle Wirsch oder das Urmel aus dem Eis. Seit 50 Jahren hüpfen nun schon die Stars der „Augsburger Puppenkiste“ an ihren 2,50 Meter langen Fäden über die Fernsehbildschirme – und stehen wohl wie keine andere Sendung für westdeutsche Kindheitserinnerungen. Ob das in Zukunft auch so sein wird, ist allerdings fraglich. Auf den Punkt bringen lässt sich das bisherige Erfolgsgeheimnis des ewigen Familienbetriebs Marschall-Oehmichen alias „Augsburger Puppenkiste“ nicht so leicht.

Bereits 1943 hatte der Schauspieler Walter Oehmichen sein erstes Türrahmen-Marionettentheater in Augsburg gegründet. Anfang der 50er-Jahre entdeckte dann der Leiter des NWDR (Vorläufer des NDR) Oehmichens Puppenkiste, und am 21. Januar 1953 war es so weit: Live und in Schwarzweiß, ohne Schnitt und ohne Tricks flimmerte erstmals „Peter und der Wolf“ im einzigen deutschen Fernsehprogramm. Das Besondere an der Puppenkiste war sicherlich, dass sie sich von Anfang an nie zum verlängerten Arm der Schule machen ließ. Statt zu belehren oder zu moralisieren, setzten sich ihre Macher für das Kinderrecht auf Unterhaltung ein – ohne dabei platt oder blöd zu sein. In der Welt der Puppenkiste waren die „Schwachen immer ganz stark und alle Könige Knallköpfe“ (Programminfo).

Vor allem die witzigen und geistreichen Drehbücher und Inszenierungen von Manfred Jenning begründeten den Ruhm der Puppenkiste, den nach dessen frühem Tod 1979 Sepp Strubel bis Anfang der 90er-Jahre fortführte. Mit ihren liebevoll und originell erzählten, immer wieder neuen und verrückten Geschichten verzauberten Jenning und Strubel nicht nur die Zielgruppe der Drei- bis Elfjährigen, sondern ließen auch Erwachsene die Fäden vergessen.

Weil Marionetten aber trotz aller Spielkunst und Fantasie immer etwas hölzern bleiben und keine individuellen Persönlichkeiten, sondern eher Typen verkörpern, waren die charakteristischen Macken der Puppen – zusammen mit den Kollegen vom Theater inzwischen über 5.500 – besonders wichtig. Ebenso wie die berühmten Erkennungsmelodien der einzelnen Serien. So sang zum Beispiel das Urmel lispelnd in seinem Lied vom „Tindlein“ , das, wenn’s größer ist, darf spazieren gehen, „weil sonst tönnt das tleine Tindlein gar nie söne Sachen sehen“. Dass die Ohrwürmer der Puppenkiste sich problemlos durch Jahrzehnte und Generationen ziehen, bewies zuletzt 1996 eine erfolgreiche Techno-Rap-Trash-Coverversion von Jim Knopfs Hymne „Eine Insel mit zwei Bergen“.

So wie der „Tatort“ oder die „Tagesschau“ gehört die Augsburger Puppenkiste längst zur bundesrepublikanischen Fernsehgeschichte. Nicht nur 180 Serien wurden in den letzten 50 Jahren überwiegend vom HR mit der Puppenkiste gedreht, sondern auch rund 500 Folgen des bundesrepublikanischen „Sandmännchen“. Sogar für Werbespots hielten die Puppenstars ihre Gesichter hin – beispielsweise für Düngemittel.

Vor allem die adventssonntäglichen Serien strahlten bis zum Beginn der privaten Programmschwemme die Aura des Besonderen aus: Die Puppenkiste wurde zum Minimythos – bei dem auch Harald Schmidt während seiner Augsburger Theaterjahre einst eine kleine Rolle sprach. Der Legende nach sollen sogar Hamburger Hell’s Angels immer wieder im Sommer auf ihrem Trip nach Italien einen Zwischenstopp in Bayrisch-Schwaben eingelegt haben – nur um einmal „in echt“ die Puppen tanzen zu sehen. Lummerland als Rockers Kindheitstraum.

Inzwischen scheint der Minimythos Puppenkiste aber immer mehr zu verblassen. Denn als das Kabelnetz die Anzahl der Programme verzehnfachte und die Konkurrenz durch die Privatsender auch im Kinderprogramm immer erbarmungsloser wurde, übernahm 1992 mit Klaus und Jürgen Marschall die dritte Generation den Familienbetrieb. Und anstatt mit Kreativität in die Offensive zu gehen, entschieden sich Oehmichens Enkel in Sachen Fernsehen für’s Recycling erfolgserprobter Ideen – und vor allem für Merchandising.

1994 stellten die Marschall-Oehmichens für mehrere Jahre gar die Zusammenarbeit mit dem HR ganz ein. Stattdessen startete man mit dem in Bottrop und New York gedrehten Spielfilm „Monty Spinnerratz“ (1996) den missglückten Versuch, in Deutschland und den USA den Kinderkinomarkt zu erobern, unternahm zum 50-jährigen Jubiläum eine riesige Deutschlandtournee und eröffnete im Augsburger Stammhaus „Die Kiste“, das Augsburger Puppentheatermuseum. Erst mit „Lilalu im Schepperland“ und dessen Fortsetzung 2000 kehrte die Puppenkiste zurück auf den Bildschirm. Seitdem scheint sie jedoch wieder unterzugehen im Programm des Kinderkanals, wo neben Lilalu noch ab und zu frühmorgens die Odopeldoks (1980) oder Urmel (1969) wiederholt werden.

Fragt man Klaus Marschall, ob die Puppenkiste es künftig im Fernsehen wieder mit den Teletubbies aufnehmen werde, versichert er: „Es gibt Pläne.“ Mehr verrät er nicht. Also ein „Teheimnis“, wie das Urmel sagen würde.

„Augsburger Puppenkiste 50 Jahre im TV“, bis 25. Mai in der „Kiste“, Spitalgasse 15, Augsburg, Di. bis So. 10 bis 19 Uhr, www.diekiste.net