Zuflucht für das Zuhause

Engagement als Medizin gegen die Skepsis: Die lettische Autorin Mara Zalite, zu Gast beim Europa-Symposion des Literaturhauses, empfindet die Re-Integration ihres Landes als selbstverständlich

von PETRA SCHELLEN

Sie ist pragmatisch und klar. Sie würde sich nie in den Chor jener einreihen, die nebulös Europa beschwören. Sie verfängt sich auch nicht in historisierenden Worthülsen, die immer leicht frömmlerisch klingen, wenn es um das dräuende EU-Arkadien geht. Denn der lettischen Autorin Mara Zalite gelingt, was nur wenige wagen im aktuellen Diskurs, und deshalb ist ihre Anwesenheit beim Europa-Symposion im Literaturhaus unverzichtbar: Sie schafft es, zwischen verkrampftem Nationalismus und legerem Selbst-Bewusstsein zu unterscheiden. Sie begreift frühe, mündlich tradierte Literatur als Identität stiftendes Element und käme nie auf die Idee, angesichts dieser Erkenntnis in Tümelei zu verfallen.

Dabei enthält es durchaus originär lettische Daina-Gesänge aus vorchristlicher Zeit, ihr Theaterstück Das Gericht, das, 1982 verfasst, sofort verboten wurde und erst 1985 in Riga erschien. Das Stück basiert auf dem 1795 edierten dramatischen Poem Die Letten, vorzüglich in Livland, am Ende des philosophischen Jahrhunderts, in dem der Aufklärer Garlieb Merkel (1769–1850) die lettische Leibeigenschaft – man leistete Fronarbeit für deutsche Gutsbesitzer – kritisiert. Gebaut ist Das Gericht aus Rundgesang-artigen, als Parabel gedachten Gesprächen der Leibeigenen und anti-lettischen Arroganzien deutschbaltischer Gutsbesitzer. Einzig der zusätzlich in den Plot geflochtene Merkel protestiert scharf gegen die Diffamierung der Letten als faul und devot.

Ein historischer, bewusst auf den in Lettland hoch geehrten Merkel anspielender Stoff, der der kommunistischen Führung – neun Jahre vor der „singenden Revolution“ im Baltikum – wohl wegen der Fokussierung auf lettische Kulturleistungen verdächtig war.

Eine Ideologie, deren Folgen Mara Zalite in der eigenen Familie spürte: 1952 als Kind deportierter Eltern im sibirischen Krasnojarsk geboren, wuchs sie – nach der Rückkehr der Familie 1956 – großteils in Lettland auf; ihre Großeltern hatten die Lagerhaft nicht überlebt. „Meine Eltern waren 1941 deportiert worden, und bis auf meinen Vater sind sämtliche männlichen Angehörigen meiner Familie infolge der stalinistischen Repressionen ums Leben gekommen“, sagt Zalite.

Doch Verbitterung pflegt sie nicht angesichts der langen Fremdbestimmtheit ihres Landes, dessen Re-Integration nach Europa sie als selbstverständlich empfindet. Allerdings verliert sie sich auch nicht in Euphorie deswegen. Dafür sieht sie zu klar, dass alle EU-Anwärter – auch Lettland wird voraussichtlich vom 1. Januar 2004 an EU-Mitglied sein – einen schmalen Grat beschreiten zwischen der Überwindung vergangener Totalitarismen und dem neu keimenden Materialismus.

Ob sie nicht in die Politik habe gehen wollen, fragte sie einmal ihre Autorenkollegin Gundega Repse; wie sie der Verführung habe standhalten können. „Ich wurde nicht verführt, ich wurde aufgefordert“, war Zalites Replik. „Auch die egoistischen Motive entfallen – an Ruhm fehlt es nicht, mein Auskommen habe ich, und im Ausland bin ich zur Genüge gewesen.“

Unprätentiös spielt Zalite auf ihre schriftstellerischen Erfolge an, erwähnt nur im Nebensatz, dass sie die von 1998 bis 2000 ausgeübte Chefredakteurs-Tätigkeit bei der literarischen Monatszeitschrift Karogs anstrengend fand. Und dass sie selbstverständlich Verantwortung empfindet für den Aufbau des demokratischen Lettland. „Engagement ist die beste Medizin gegen die Skepsis. Und wenn ich wüsste, dass in der gegenwärtigen Entwicklungsphase des Staates etwas Wesentliches unmittelbar von meiner Tätigkeit abhängen würde“, dann setzte sie sich durchaus ins Parlament. Doch sie hat den Eindruck, dass Lettland – als Gegengewicht zur grassierenden Binnenmarkt-Diskussion – derzeit eher ihre Literatur braucht. Und dass es nötig ist „mit einer überkommenen Kulturerfahrung in Dialog zu treten“, ohne deshalb im Sumpf des Vergangenen steckenzubleiben.

Festlegungen auf eine Rolle verweigert sie allerdings vehement: Nicht nur, dass sie als Lyrikerin und Dramatikerin zwischen allen Genres wandelt. „Ich vermag mich keiner der gesellschaftlichen Rollen gänzlich zu unterwerfen, die das Leben mir angetragen hat. Ich habe es nie gewollt und vermocht, an meiner ,Schale‘, an einem Image zu arbeiten“, bekennt sie. „Seit jeher war mir diese romantisierende Interpretation des Terminus ,Dichterin‘ zuwider. Stets wollte ich dem etwas entgegensetzen: den schwarzen Kleidern, den Mützen und Schals, den Kerzen, der Unbeholfenheit in praktischen Dingen, der Bohème usw.“

Mara Zalite möchte eben nicht als publikumswirksame Figur, sondern als Individuum wahrgenommen werden – und bleibt dabei deutlich ambivalent; wenig überraschend etwa, dass sie in ihren Texten eine von Ironie hinterfangene Dialektik pflegt: „Wir können von der Schnecke nichts lernen, denn das Zuhause ist nicht Zuflucht für uns. Sondern wir werden Zuflucht für das Zuhause sein“, schreibt sie, ahnend, dass geistige Heimat nirgends fertig vorliegt. „Du weißt nie ganz genau, welche Saat du in dir trägst. Man kann nur abwarten, was daraus erwächst. Ich weiß nichts über meine mentale Zukunft“, fügt sie hinzu. Und genau deshalb möchte sie sich „als kreative Persönlichkeit weiterentwickeln“, weswegen sie seit 2000 als freie Autorin in Riga lebt.

Als Formalistin betrachtet sie sich allerdings nicht, und ihre Stoffe findet sie oft in klassischen Texten: „Gott hat mir weder das Vermögen, Plots mit Schwindel erregenden Wendungen zu erfinden, noch Begabung auf dem Gebiet der Seelenmikrochirurgie gegeben“, sagt sie. „Ich habe Freude daran, adäquate Modelle einer Situation zu finden und zu fassen, Schlüsselworte zu suchen. Manchmal scheint das gelungen zu sein. Ab und zu denke ich: entsetzlich, immer wieder nach Motiven. Aber möglicherweise ist es so, dass unser ganzes Dasein nach Motiven verläuft. Alles ist unablässige Interpretation und Wiederholung.“

Lesung und Diskussion mit Mara Zalite und dem dänischen Autor Jens Christian Gröndahl: Freitag, 31. Januar, 14 – 16 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38. Das übrige Freitagsprogramm des Symposions: Dragan Velikic (Serbien) / Jean-Philippe Toussaint (Belgien): 10.30–12.30 Uhr. – Panos Ioannides (Zypern) / Emine Sevgi Özdamar (Türkei): 16.30 – 18.30 Uhr. Richard Swartz (Schweden): 20 Uhr.