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Archiv-Artikel

Philanthropie als Ausweg

Zwischen Hysterie und Engagement: Wie aus der Lebensnot bürgerlicher Mädchen die Grundlagen weiblicher Sozialarbeit entstanden, zeigen die Lebensgeschichten von Bertha Pappenheim und Alice Salomon

von KATHARINA RUTSCHKY

Spätestens 1904 müssen sich ihre Wege in Berlin gekreuzt haben: Die Berlinerin Alice Salomon war maßgeblich an der Organisation des Kongresses des International Council for Women (ICW) beteiligt, und Bertha Pappenheim, aufgewachsen in Wien, seit 1888 in Frankfurt am Main lebend, gründete auf diesem Kongress den Jüdischen Frauenbund. Als dessen Vertreterin gehörte sie von 1914 bis 1924 dem Vorstand des Bundes deutscher Frauenvereine (BdF) an, wo sie wieder auf Alice Salomon getroffen sein muss.

Anlass, an diese beiden frühen Feministinnen und Pionierinnen der weiblichen Sozialarbeit zu erinnern, ist eine umfassende Biografie, die das Leben der Bertha Pappenheim ebenso gründlich darstellt wie ihr (Vor-)Leben als „Anna O.“ – unter diesem Namen nimmt Pappenheim einen Ehrenplatz in der Geschichte der frühen Psychoanalyse ein. Als junge Patientin mit der Diagnose Hysterie erfand sie für die psychoanalytische Behandlungsweise das Wort „talking cure“, humoristisch von ihr auch „chimney sweeping“, Kaminkehren, genannt.

Ihr Fall ist der erste in den 1895 erschienenen „Studien über Hysterie“, dem Gemeinschaftwerk von Sigmund Freud und Josef Breuer, ihrem Arzt, der sie mit einem heute unbegreiflichen täglichen Aufwand von 1880 bis 1882 behandelte. Nicht gerade mit Erfolg, denn vor „Anna O.“ lagen danach noch weitere sechs Jahre des Leidens und der Klinikaufenthalte, ehe sie – man weiß nicht wie – mit ihrem Umzug nach Frankfurt plötzlich gesund, tatkräftig und so selbstbewusst vor uns steht, wie man es von einer Sozialreformerin und Feministin nur erwarten kann.

Marianne Brentzel, bekannt geworden durch ihr Buch „Nesthäkchen kommt ins KZ“ über die Mädchenbuchautorin Else Ury, ist nicht die erste Biografin Bertha Pappenheims, wohl aber die Erste, die alle verstreuten Forschungen und Deutungen zu einer lesenswerten, überaus anregenden Gesamtdarstellung zusammengefügt hat („Anna O. – Bertha Pappenheim“, Göttingen 2002, Wallstein Verlag, 320 Seiten, 28 Euro).

Jenseits des rein historischen Interesses bietet das Studium dieser Lebensgeschichte im Vergleich mit der von Alice Salomon Stoff, über die bis heute nachwirkenden Ursprünge weiblicher Sozialarbeit, ihre Verwobenheit mit Sittlichkeitsfragen (wie es damals hieß) und ihr Verhältnis zu allgemeineren Fragen der Emanzipation nachzudenken. Zumal die Berufsstatistik lehrt, dass die bildende und helfende Arbeit mit Menschen die Domäne geworden ist, in der sich die hart erkämpfte qualifizierte Berufstätigkeit der Frauen bis heute vorzugsweise abspielt.

Pappenheim wie Salomon stammten aus wohlhabenden jüdischen Bürgerfamilien. Beide – die Erste 1859 geboren, die Zweite dreizehn Jahre später – bekamen nicht mehr als die kurze, schöngeistig verwaschene Schulbildung zugeteilt, die für Mädchen, die doch heiraten sollten, für ausreichend gehalten wurde. Nicht unbedingt aus Geiz, sondern aus Konvention. Weibliche Arbeit außerhalb der eigenen Familie war etwas für Arme, musste von Vätern erlaubt werden, die nicht fähig waren, den Töchtern ein standesgemäßes Leben zu bieten. Bei aller Vaterliebe – über der Pflege ihres Erzeugers stürzte Pappenheim in die Hysterie – hat sie sich später über die Bevorzugung des Bruders, der studieren durfte, deutlich beklagt und es dem Bruder mit lebenslanger Antipathie entgolten.

Salomon nährte früh den Wunschtraum, Lehrerin zu werden, wusste aber nicht, wie sie ihn in die Tat umsetzen sollte. Ihre Rettung wird für sie in Berlin wie für die gesundete Pappenheim in Frankfurt die Philantropie, die bürgerlich-liberale Kreise für die Antwort auf die vielen, in den Städten besonders sichtbaren sozialen Probleme halten. Suppenküchen, Kinder- und Mütterbetreuung, belehrende Vorträge über Haushaltsführung und Gesundheitsfragen – all das geschah natürlich ehrenamtlich, unprofessionell mit den Mitteln, die den Mädchen und Frauen von Herz und Kopf und nicht zum kleinen Teil von den Überzeugungen nahe gelegt wurden, welche sie aus der bürgerlichen Lebenswelt mitbrachten.

Schaut man sich diesen Vorläufer der weiblichen Arbeit am Menschen genauer an, fällt auf, dass an die Stelle religiöser Gebote für karitatives Handeln die weibliche Psyche als Kraftquell getreten ist. Das gilt für die 1914 zum Protestantismus konvertierte Salomon, das gilt aber auch für Pappenheim, die der jüdischen Orthodoxie ihres Vaters zwar formell treu blieb, ihre Arbeit für jüdische Waisen, uneheliche Kinder und Mütter aber ausdrücklich als eine Kritik am alten Schlendrian des Almosensammelns und -verteilens auffasste.

Leider geht Brentzel auf den doch eigentlich unmöglichen Spagat zwischen orthodoxem Glauben und Feminismus bei Pappenheim nicht ein. Wie konnte diese energische, intelligente Frau jedes Reformjudentum, dazu den Zionismus, das Frauenwahlrecht und viele andere Progressionen so ätzend verurteilen, wo sie doch als ehe- und kinderlose Frau so gar nicht den Vorstellungen der Orthodoxie und des konservativen Bürgertums entsprach, in dem sie ebenfalls verwurzelt blieb? Wenn sie nicht gerade revolutionäre Statements in die Welt setzte wie dieses: „Vor dem jüdischen Gesetz ist die Frau kein Individuum, keine Persönlichkeit, nur als Geschlechtswesen wird sie beurteilt und anerkannt.“ Das war auf dem ersten Kongress des Jüdischen Frauenbundes 1907, und der Skandal war perfekt.

Auch nach ihren vielen Therapien und Sanatorienaufenthalten blieb Bertha Pappenheim reizvoll, mit ihrer intrikaten Mischung von herausfordernder Koketterie und Aggressivität, von Engagement und Selbstdarstellung. Kein Wunder, dass sie die Aufmerksamkeit so vieler Forscher auf sich gezogen hat, während Salomon bei vergleichbaren Voraussetzungen zwar die Kraft hatte, zu einer weltklugen, weitschauenden Organisatorin und guten Ausbilderin zu werden, dieser spezifischen Faszination jedoch entbehrt. Immerhin: Die Soziale Frauenschule, welche Salomon mit erheblichen privaten Opfern gegründet hat, existiert heute noch als Fachhochschule für Sozialarbeit, unter ihrem wieder angenommenen Namen in Berlin.

Aber zurück zur weiblichen Psyche als Kraftquell der Arbeit mit Menschen. Schon Breuer fiel bei der Behandlung von Pappenheim auf, wie symptomfrei und zielstrebig seine Patientin agieren konnte, wenn es um die Abfassung von Bittgesuchen für Hilfsbedürftige ging, derer sie sich angenommen hatte. Brauchten die Bittsteller sie oder Pappenheim die Notleidenden?

Auch bei Salomon schillert die Empathie in den sonderbarsten Farben. „Ich rebellierte gegen die Ungerechtigkeit und die Ungleichheit der Chancen. Während des ersten Jahrzehnts meiner Arbeit konnte ich keinen Mann auf der Straße schwere und schmutzige Arbeit verrichten sehen, ohne mich darüber zu wundern, warum er nicht Leute wie mich, die von solcher Plackerei befreit waren, einfach angriff.“

Salomons Motive, sich ehrenamtlich der Wohlfahrt zu widmen, lag dieselbe Lebensnot des bürgerlichen Mädchens zugrunde wie bei Pappenheim. Auslöser dieser Lebensnot waren aber nicht die Armen und Elenden, sondern die eigenen Väter und Mütter, die man doch ebenso zu lieben hatte wie die bevorzugten Brüder. Wo ist die Wut über die väterliche Ungerechtigkeit, die Enttäuschung über die zuschauende Mutter bei all den jungen Frauen geblieben, die in der Wohlfahrt mangels Alternativen Gutes tun mussten?

Salomon war imstande, ihre Anfälle von Askese und Selbstbestrafung unter Kontrolle zu bringen, ja, lange galt sie auf Kongressen als die eleganteste Frau! Überdimensioniert scheint aber das gewesen zu sein, was sie ihr Pflichtgefühl nennt. Dass sie als Pazifistin und Internationalistin sich im Ersten Weltkrieg dem Kaiserreich quasi zum Kriegsdienst zur Verfügung stellte, gehört ebenso hierher wie ihr allzu versöhnliches Verhalten gegenüber reaktionären Entwicklungen im Bund deutscher Frauenvereine nach dem Ersten Weltkrieg. 1937 wurde sie zur Emigration gezwungen. Sie starb 1948 in New York.

Über Pappenheims harschen Einzelkämpferstil und ihre spartanischen Grundsätze bei der Führung des jüdischen Kinder- und Mütterheims in Neu-Isenburg informiert die Biografie von Brentzel. Pappenheim hatte lebenslang ein Feindbild, das aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt war. Der Klebstoff war eine sexuelle Paranoia, die sich nicht bloß auf die Doppelmoral der Männerwelt und die von Pappenheim überall vermuteten, international operierenden Mädchenhändlerringe bezog: In die Verachtung, Verfolgung und Verurteilung waren auch die mutmaßlichen Opfer einbezogen, denen neben Faulheit, Dummheit und Putzsucht auch die Zugehörigkeit zu einer ostjüdischen Gesellschaft von schlimmer „Unkultiviertheit“ angerechnet wurde.

Was sie auf ihren Reisen, die sie auf den Spuren des Mädchenhandels nach Russland, Galizien, Polen und in den Vorderen Orient unternahm, zu Papier brachte, zeugt nicht von Empathie und sozialpolitischem Verständnis, bei allem Eifer nicht einmal von Neugier. Man wundert sich nicht, dass die Nazis im Stürmer später Pappenheim-Zitate für ihre antisemitischen Tiraden nutzen konnten. Den Mädchenhändlern auf die Spur gekommen ist sie ebenso wenig wie andere Mitstreiter – deren Haupterfolge in der Veranstaltung von Kongressen, der Verabschiedung von Resolutionen und sogar der Abfassung von Gesetzen bestanden.

Noch immer sind diese urbanen Mythen nicht ausgestorben. In der taz war am 8. Januar von einer vermutlich doch kundigen Vertreterin des sexuellen Dienstleistungsgewerbes zu erfahren, dass Frauenhandel in minimalen Dosen vorkomme, viel häufiger aber verständlicherweise von immigrierten Prostituierten angeführt wird, um bei der Polizei gut behandelt und nicht mit Einreiseverbot belegt zu werden. Wie Dietmar Jazbinsek vom Wissenschaftszentrum Berlin jüngst nachwies, gab es zu Pappenheims Zeiten einen „white slave trade“ so wenig, wie es heute pädophile Verschwörungen in der katholischen Kirche oder im Internet gibt.

Pappenheim starb – schlimm zu sagen: Gott sei Dank – 1937 in Neu-Isenburg. Die dort von ihr begründete und lange geleitete jüdische Wohlfahrtseinrichtung fiel den Pogromen von 1938 zum Opfer. Siebzig Kinder und Mitarbeiterinnen wurden 1942 Opfer des Holocaust.

KATHARINA RUTSCHKY lebt als freie Publizistin in Berlin