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Archiv-Artikel

Ritueller Notenprotest

Jeder kann einen Grund zum Protestieren finden, man muß nur lange genug über das Leben nachdenken. Und wenn die ganze Stadt unzufrieden ist, warum nicht auch die, die ihre Zukunft sind. Trotz des eisigen Schnees, der am Freitagmittag über den Alexanderplatz fegt, verlieren sich Schüler in halber Klassenstärke im Schneegestöber vor dem Roten Rathaus. Bei ihnen Kamerateams und Fotografen. Es ist Zeugnistag – und dieser ein Grund zum Protest. Und zur Zeugnisverbrennung. „Noten sind Zufälle“, sagt die Abiturientin Carla Höppner vorher noch in ihr Megafon. „Die Bewertung erzwingt Anpassung und Gehorsam.“ Nicht pauken wolle sie, sondern „Dinge lernen, die wirklich interessieren“. Außerdem sei die Schule ein „undemokratisches System“. Schüler müssten gemäß ihres prozentualen Anteils an schulischen Entscheidungen beteiligt, Eltern fern gehalten werden. „Und jetzt schmeißen wir die Zeugnisse ins Feuer.“ Journalisten und Schüler gruppieren sich um eine rostige Tonne, in der Feuer brennt, und entzünden ihre Papiere. Eins nach dem anderen geht in Flammen auf, zuerst noch zögerlich, der Wind ist stark, dann immer sicherer. „Enough is enough is enough“, krächzt ein Lautsprecher. Die 20-jährige Abiturientin Viviane Flügge ist die Organisatorin des Protests. Seit 1998 würden in Berlin Zeugnisse verbrannt, erzählt sie. Die Presse sei jedes Mal sehr interessiert, die Schüler je nach Wetter. Dieses Mal nicht so. „Es ist wichtig, auf unser Anliegen aufmerksam zu machen.“ Denn auch sie findet, „Noten werden nach den Vorlieben der Lehrer vergeben“. Und sie geht weiter: „Das Abitur dient der Selektion nach gut, mittel und schlecht.“ So werde für die Gesellschaft „vorselektiert“. Es gebe eine Tradition zu Verbrennungen „autoritärer Dokumente“. Wie in den Fünfzigern, als erste Einberufungsbescheide brannten, wie in den Achtzigern, als Volkszählungspapiere brannten, oder wie im Apartheidssüdafrika, als Ausweise brannten. Dass Zeugnisse Dokumente sind und diese zu Vernichten kein Kavaliersdelikt, das wissen auch die Schüler. Doch so weit lassen sie es nicht kommen: In Wirklichkeit brennen keine Zeugnisse – sondern deren Kopien. Darauf achten sie genau.

FABIAN GRABOWSKY