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Archiv-Artikel

Das Solidarprinzip ist unteilbar

Ein bezahlbares und leistungsfähiges Gesundheitssystem braucht die gesetzlichen Krankenversicherungen – und darf Gesunde nicht belohnen und Kranke nicht bestrafen

Was auch immer man von der Ministerin Ulla Schmidt hält:In einem Punkt hatsie Recht

Heute schon zusammengezuckt? „Freizeitunfälle müssen privat abgesichert werden“, „Familien sollen nicht mehr mitversichert werden“, „Jeder soll Eintrittsgeld beim Arzt zahlen“. Jeden Tag sickert, tröpfelt und knallt es auch mal aus den Laboren der Gesundheitsreformer. Und alles klingt sehr danach, als wenn wir, die gesetzlich Versicherten, bald mehr für unsere medizinische Versorgung zahlen müssten.

Genauer gesagt: Es klingt, als wenn die Gesundheitsausgaben zwischen den Versicherten neu aufgeteilt würden. Gebannt verfolgen alle – Haushaltsvorstände und Singles, Gutverdiener und Rentner, Nichtraucher und Segelflieger –, ob sie es sind, denen am Ende die Rechnung präsentiert wird. Je länger die Debatte dauert, desto deutlicher wird dabei ein merkwürdiger Effekt: Die Gruppe derjenigen, die potenziell betroffen sind, wächst stetig. Ihr Empörungspotenzial äußert sich dann ungefähr so: „Statt endlich eine richtige Gesundheitsreform vorzulegen, will der Staat bloß wieder die Familien/Singles/Nichtraucher für die Misere der Krankenkassen büßen lassen!“

Wie so eine „richtige Gesundheitsreform“ aussehen sollte, kann wiederum niemand beantworten. Dem Bedürfnis nach weit reichenden Eingriffen entspricht jedoch am ehesten eine Forderung aus dem CDU-Wahlprogramm, die kürzlich auch im Kanzleramtspapier auftauchte: So genannte Selbstbehalte oder auch „Eigenleistungen“ nach dem Muster der Kfz-Versicherung (Vollkasko, Teilkasko), bei denen man einen bestimmten Anteil an Arzt- und Medikamentenkosten pro Jahr selbst zahlen muss, bevor die Krankenkasse dran ist. Und es ist durchaus möglich, dass die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt die „Eigenbeteiligung“ brauchen wird, um ihre Reformvorschläge mit der Union durch den Bundesrat zu bekommen.

Wenn es so weit kommt, ist schon einiges schief gegangen. Das fängt mit dem Kampfvokabular an. Der Begriff „richtige Gesundheitsreform“ etwa ist schwierig, weil er von allen benutzt wird: den Privatisierern, den Schulmedizingegnern und denen, die das Einkommen der Ärzte für das Hauptproblem halten. Die Debatte kann sinnvoll nur ohne die bekannten Schlagwort-Salven geführt werden. Der Ruf „Es muss endlich eine umfassende Reform an Haupt und Gliedern durchgesetzt werden“ klingt zwar gut. Aber nach über 25 Jahren Reformversuchen christ- wie sozialdemokratischer Regierungen dürfte allen klar sein, dass das Gesundheitswesen wenig Eindeutigkeit kennt. Wo immer jemand stupst oder zupft, es fällt immer an ganz ungeahnten Ecken etwas herunter.

Natürlich kann das Gesundheitswesen nicht bleiben, wie es ist. Aber um den Missbrauch der gesetzlichen Krankenversicherung durch Interessengruppen und Pharmaindustrie, die das System mit einem Selbstbedienungsladen verwechseln, zu verhindern, müssen viele Schräubchen gleichzeitig gedreht werden. Krankheitsverhütung sollte am Arbeitsplatz ansetzen, Aufklärung über Gesundheitsrisiken verstärkt, Aufklärung über Krankheitskosten durch Patientenquittung, Aufklärung über Therapien durch unabhängige Beratungsstellen verbessert werden. Aber dazu muss man die gesetzliche Versicherung erhalten und darf sie nicht kaputt machen.

Wer eine bessere Versorgung aller, und zwar unabhängig von Alter und Einkommen und auf einer Höhe mit dem medizinischen Fortschritt, erreichen will, darf außerdem nicht jegliche Reform unter das Diktat einer Senkung der Kassenbeiträge, sprich der Lohnnebenkosten stellen. Unter diesen Voraussetzungen ist jedoch etwa die Einführung von Wahltarifen mit Selbstbehalt Unfug. Was auch immer man von der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt hält, in einem zentralen Punkt hat sie Recht: Das Solidarprinzip ist, weil es ein Prinzip ist, unteilbar. Es korrespondiert dem prinzipiell unberechenbaren Risiko, krank zu werden. Keine Reform sollte Gesunde dafür belohnen, dass sie gesund sind, und Kranke dafür bestrafen, dass sie es nicht sind.

Wer die gesetzliche Krankenversicherung im Kern bewahren will, darf die Gemeinschaft der gesetzlich Versicherten nicht immer weiter in Gruppen mit unterschiedlichem Risiko zerfallen lassen. Es reicht, dass sich die Wohlstandsbürger, also etwa Beamte, Ärzte, Architekten in private oder berufsständische Versicherungen absetzen können, wo sie untereinander solidarisch sein dürfen.

Deshalb ist es auch nicht hilfreich, auf das Vorbild Schweiz zu verweisen, die mit Selbstbehalten gute Erfahrungen gemacht habe: Hier sind nämlich alle in der öffentlichen Versicherung und also von vornherein weit solidarischer als die Deutschen. Für die Bundesrepublik, die sich entschlossen hat, ihren Privatversicherungsmarkt zu pflegen, gilt: Die Möglichkeit, einen Kassentarif mit Selbstbehalt zu wählen, nutzt nur denen, die keine oder geringe Ausgaben verursachen, also gesund sind. Die Techniker-Krankenkasse mit ihrem „Modellprojekt“, in dem freiwillig Versicherte (also Gutverdiener) eine Prämie bekommen, wenn sie nicht zum Arzt gehen, hat einen Vorstoß gemacht, der kein Vorbild für den Rest der Kassenlandschaft sein kann.

Es gibt außerdem Grund zur Annahme, dass solche Selbstbehalte aus medizinischen Gründen nicht sinnvoll sind. So hat zum Beispiel die AOK von 1970 bis 1973 bereits einen kleinen Versuch unternommen, ihre Versicherten vom Arzt fern zu halten. Wer seine Krankenscheine am Ende des Jahres zurückgab, bekam pro Stück zehn Mark. Dies hatte zur Folge, dass die Leute auch notwendige Behandlungen verschoben und kränker wurden als nötig, so dass die AOK von diesem Projekt bald wieder Abschied nahm.

Vermutlich wird die so genannte Steuerungswirkung der Selbstbehalte von ihren Freunden maßlos überschätzt. Natürlich müssen überflüssige Arztkontakte vermieden werden. Es stimmt, dass kein Volk so viel zum Arzt läuft wie die Deutschen, ohne dass es dadurch etwa gesünder wäre als zum Beispiel die europäischen Nachbarn. Es liegt sogar nahe, dass die Deutschen unter anderem deshalb so viele Krankheiten haben, weil jeder Spezialist etwas unbedingt Behandlungswürdiges an ihnen findet, denn wir leisten uns ja auch die höchste Ärztedichte der Welt.

Nicht jegliche Reform darf unter dasDiktat einer Senkung der Kassenbeiträgegestellt werden

Wenn jedoch die öffentliche Debatte um die Gesundheitsreform dazu führt, dass die Mitglieder der gesetzlichen Kassen in konkurrierende Risikogruppen dividiert werden, ist nichts zur Rettung der gesetzlichen Krankenversicherung erreicht – außer dass Selbstbehaltzahler sich heldenhaft dünken, weil sie nicht zum Arzt gehen.

Bedroht wäre dagegen die immer noch relativ gleiche Versorgung aller Pflichtversicherten. Denn den Interessengruppen – namentlich Pharmaindustrie, Ärzte und Kassen – wäre keine Reform abgerungen worden. Dadurch wäre garantiert, dass die Gesundheitsausgaben weiter steigen und damit auch die Kassenbeiträge beziehungsweise die Lohnnebenkosten. Und das wollte dann wieder keiner.

ULRIKE WINKELMANN