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Archiv-Artikel

„Kino ist für mich noch immer ein Geheimnis“

Der Ex-PDS-Bundesvorsitzende Lothar Bisky ist zwölf Jahre in der Politik, hat sich aber sein ganzes Leben mit Film beschäftigt. Ein Gespräch über mutige Regisseure, ehrliches Kino, schöne Schnulzen und darüber, warum der einstige Rektor der Filmhochschule Babelsberg trotz allem nicht zur Berlinale geht

Interview JÖRN KABISCH und BARBARA SCHWEIZERHOF

taz: Herr Bisky, freuen Sie sich auf die Berlinale?

Lothar Bisky: Wissen Sie, Festivals sind nicht so mein Fall. Der Drehbuchautor Frank Daniels hat mir einmal gesagt: „Je mehr Studentenfilme ich sehe, umso lieber höre ich Musik.“ In meinem Fall gilt der Zusammenhang für Festivals und Bücher.

Aber Sie sind noch Kinogänger?

Als Politiker komme ich heute leider viel zu wenig dazu. Früher war es ein festes Ritual, einmal im Jahr einen ganzen Tag ins Kino zu gehen. Jetzt sehe ich Premiere, um bei den aktuellen Filmen auf dem Laufenden zu bleiben.

Was war denn der letzte Film, den Sie im Kino gesehen haben?

„Nachtgestalten“. Aber da war ich eingeladen zu einer Diskussion.

Der Regisseur ist Andreas Dresen. Einer ihrer alten Schüler?

Ja, natürlich. Wie alle, die Andreas heißen, und im Film was geworden sind. Also Andreas Dresen, Andreas Kleinert und Andreas Voigt.

Dass Sie Rektor an der Hochschule für Film und Fernsehen in Babelsberg waren, spielt also noch immer eine Rolle?

Ich werde öfter mal eingeladen. Und wenn jüngere Regisseure Probleme haben, bekomme ich manchmal Rohschnitte oder Videos. Das ist eine Konstante im Leben geblieben. Ich habe mir eben Fred Kelemen angesehen. Ich muss sagen, der hat das Zeug zu einem großen Regisseur. Hoffentlich bekommt er auch die Bedingungen dafür.

Warum sind Sie da skeptisch?

Kelemens Filme sind anstrengend und wirklich kein reines Vergnügen, aber es ist eben Film. Sie erinnern mich ein Stück an russischen Film: Diese satten Bilder, Bäume sind da manchmal kleine Ungeheuer. Solche Bilder stehen in einer filmischen Tradition, die mich immer stark beeindruckt hat. Wobei ich sagen muss, ich bin kein Cineast.

Wen bezeichnen Sie denn als Cineasten?

Ich meine Leute, die ganz ernsthaft nur ganz ernsthafte Filme sehen. Ich dagegen bin aus reinem Vergnügen zum Kino gekommen. Ich bin ein Armeleutekind und war deswegen oft im Wanderkino. Theo Lingen, Hans Moser – über die konnten wir wochenlang lachen. Und das ist bis heute so. Allerdings: Die heutigen deutschen Komödien kann ich nicht leiden. Schnulzen dagegen habe ich immer mit Leidenschaft gesehen: „Vom Winde verweht“, „Dr. Schiwago“. Als Nichtcineast kann man zum Glück individuelle Vorlieben pflegen. Aber auch Fassbinder hat mich zum Beispiel fasziniert.

Wissen Sie noch, was der erste Film war, den Sie gesehen haben?

Dick und Doof.

Und wen hatten Sie lieber?

Dick. Aber das ist doch keine prinzipielle Frage.

Wie sind Sie dann konkret zum Film gekommen?

Über die empirische Sozialforschung. Meine erste Studie war 1969 eine über den Film „Ich war 19“ von Konrad Wolf. Da hat uns interessiert: Wie nehmen junge Leute in der DDR den Film auf? Das war übrigens eine saubere empirische Untersuchung – mit anonymen schriftlichen Befragungen. Später erforschten wir auch die Beliebtheit von Filmhelden. Und so kam ich dazu. Denn die Filmleute selbst wollten wissen: Wie denken die Zuschauer?

Dann können Sie uns heute erklären, warum „Herr der Ringe“ so gut ankommt?

Nein. Man bildet sich zwar ein, das erklären zu können. Für mich ist das aber nach wie vor ein Geheimnis, wie bestimmte Bilder und Figuren plötzlich die Kinosäle der Welt erobern.

Wenn Sie heute noch einmal einen Film untersuchen könnten so wie damals „Ich war 19“, welcher Film wäre das?

„Nachtgestalten“ von Dresen etwa. Oder ein Politthriller wie „Staatsfeind Nr. 1“. Oder auch ein Sozialdrama wie „All or Nothing“ von Mike Leigh. Ich bin nicht so vermessen, zu glauben, alles lehren zu können, was ich früher beherrscht habe – nach zwölf Jahren, die ich raus bin aus der Wissenschaft. Ich könnte noch „Politische Kommunikation in Massenmedien“ unterrichten. Ich denke, da habe ich genug Praxis.

In zwölf Jahren ist Kino doch nicht neu erfunden worden …

… aber der Kontext ist ein anderer geworden, die Wahrnehmung. Damit muss man sich auseinander setzen. Früher habe ich immer behauptet, bald kommt die erste Fernsehgeneration, die nimmt die Bilder ganz anders wahr als meine Generation. Nun gibt es schon die ersten Computer- und Internetgenerationen, und wieder hat sich das Bedingungsgefüge für Wahrnehmung verändert.

Wie meinen Sie das?

Sehr einfach. Ich weiß, dass ich eine andere Sehgeneration bin. Der Film bildet ja das Auge. Was beispielsweise an Gewalt läuft heutzutage, ist anders. Ich will das gar nicht beklagen, nur: Meine Generation ist vor Bildern zurückgeschreckt, die heute nur noch Lachen hervorrufen. Nein, wenn ich heute wieder solche Forschungen mache würde, würde ich so etwas versuchen, wie es die „Cultural Studies“ etwa in Birmingham betreiben.

Ihr Arbeitsverhältnis mit der Hochschule ruht nur!

Ich habe das Glück, das nur wenige Ostdeutsche hatten, dass ich nicht rausgeschmissen wurde.

Es heißt, Sie waren vor 89 ein politischer Rektor, dem es auf die Produktionsbedingungen seiner Studenten ankam, der ihnen freies Filmemachen ermöglichte. Wie kam das?

Ich habe mich zuerst ein Jahr standhaft geweigert, Rektor zu werden. Dann bekam ich das Protokoll eines Gesprächs in die Hände, das Kurt Hager, der damalige „Chefideologe“, mit Studenten geführt hatte. Für DDR-Verhältnisse war es ein sehr offenes Gespräch. Und Hager versprach, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Aber natürlich ist nichts passiert. Als ich das Protokoll las, dachte ich mir, die Studenten haben eigentlich Recht mit dem, was sie da über die Lehre, über ihre eigene Situation sagen. Da habe ich mich entschieden, den Job zu machen. Zum Glück standen mir Freunde wie der Regisseur Heiner Carow bei. Er hat mich von Anfang an unterstützt. Wir haben zum Beispiel gesagt: Die Schere ist hier kein Pädagoge mehr, die Studenten sollen selbst entscheiden, welche Bilder drin sind. Und das habe ich durchgezogen. Deswegen sollte ich anfangs sogar ein Parteiverfahren bekommen, aber das war doch albern.

Aber doch nur von heute aus gesehen.

Man soll das nicht übertreiben. Der Carow und die anderen, die haben doch alle für einen besseren Film gekämpft. Carow wollte damals „Simplicissimus“ verfilmen, woraus nie etwas wurde. Übrigens, nach der Wende hat er keinen Kinofilm mehr drehen können – ein Jammer. Leute wie er wollten, dass es den Studenten nicht so schwer gemacht wird wie ihnen früher.

Wie also wollten Sie ausbilden?

Mein Idealbild einer Filmausbildung war immer, dass Regisseure, um ihr Diplom zu kriegen, einen abendfüllenden Spielfilm vorzulegen haben. Dann erst kriegt man Regisseure, nicht Trockenschwimmer, die nach zig Jahren Ausbildung mal mit 10.000 Mark proben dürfen. Nein, Film ist ein Risiko, das man eingehen muss, auch die Ausbildung von Regisseuren. Es ist doch wahnsinnig arrogant, zu glauben, man könne Leute lehren, wie man Film macht. Das geht nicht.

Filmemachern wie Dresen, Kleinert und Voigt haben Sie aber doch was beigebracht?

Ich habe diesen dreien vor allem viel zu verdanken. Sie haben mir, dem Bücherwurm, die Wirklichkeit etwas deutlicher gezeigt.

Soll das heißen, die haben sie politisiert?

Ja, auch wenn ich politisch natürlich immer interessiert war. Damals ging’s beispielsweise um die Frage: Macht man einen Film über einen Punker? Bernd Sahling hat so etwas gemacht; der Film heißt „Wenn einer aber so leben will wie ich …“. In einer Szene sagt ein Punker: „Dieser Scheißstaat!“ Lässt man den Satz im Film oder nicht? Man muss es natürlich, weil man sonst gar nichts über den Menschen erfährt. Er wird erst interessant über diesen Satz. Studenten wie Sahling, die sind auf das Leben zugegangen. Wer das Leben in der DDR nicht verfälschen wollte, der musste das tun. So haben sie mir die Augen geöffnet. Die Studenten waren keine Gegner des Sozialismus. Die wollten einfach ehrliche Filme machen. Wie heute auch.

Heute gibt es die Pauschalthese: Die Zensur von früher ist einfach durch die Zensur des Marktes ersetzt worden.

Auf den ersten Blick mag das stimmen. Es ist ja überhaupt nicht einzusehen, dass gute Filmleute heute auch noch solche Schwierigkeiten haben. Das liegt an der Tendenz zur Oberflächlichkeit. Man will nichts Ernsthaftes zur Kenntnis nehmen, vor allem nichts Kritisches. Auf der anderen Seite … Ich muss da eine Geschichte von dem bulgarischen Lyriker Petrov erzählen. Der saß acht Jahre unter Schiwkow. Meine Freunde in Bulgarien scherzten damals, welche kulturpolitische Wohltat das war, weil Petrov in dieser Zeit Shakespeare übersetzte. Aber ich meine: Den Scherz muss man erst mal über die Lippen bringen nach acht Jahren Gefängnis! Deshalb habe ich doch Hemmungen, die Zustände heute mit damals zu vergleichen. Also, ich bin heilfroh, dass es nur die Zensur des Marktes ist. Es ist ja noch die Freiheit da, Geld zu bekommen. Allerdings gibt es dafür keine Garantie.

Klingt da die alte Überzeugung des Rektors durch, dass die Studenten für ihren Film selbst die Verantwortung übernehmen müssen?

In einem gewissen Sinn. Nehmen Sie zum Beispiel Andreas Dresen. Das ist keiner, der auf Fördermittel wartet. Er sucht nach Verhältnissen, in denen er Filme machen kann. Er hat seinen Stoff, und dann steht er vor der Frage: Wie lässt der Markt mich was machen, was nicht vom Mainstream diktiert ist? Kleinere Sachen lassen sich so zwar umsetzen, aber für größere Projekte sieht es immer kompliziert aus, da muss man zu den Firmen, zu den Sendern, die wollen dann alle Einfluss nehmen. Da unabhängig zu bleiben und auf seiner Geschichte zu bestehen ist fast unmöglich.

Man könnte sich an die Filmförderung halten.

Die heutige Filmförderung ist doch nur das Verwalten von Steuergroschen. Gott erhalte uns zwar die Filmförderung und das Filmboard, aber so fördert man doch keine Industrie. Film ist Wirtschaft; er ist diese Mischung aus Wirtschaft, Kultur, Kreativität, Piraterie und Ganoventum.

Wie lässt sich das ändern?

Es gibt da Thesen von jüngeren Leuten. Die wollen einfach die Freiheit haben, mit Risiko Filme produzieren zu können. Insgesamt ist es doch so: Wir ziehen die Trennung von Kunst und Kommerz heutzutage zu scharf. Dabei ist die Spannung zwischen den Polen doch so wichtig. „Harry Potter“, „Herr der Ringe“, die Filme sind wegen dieser Spannung interessant. Bei uns gibt es immer diese Trennung von Olymp und Masse. Dabei sind die Sternstunden des Kinos doch die, in denen das überwunden wurde: „Spur der Steine“ oder „Die Legende von Paul und Paula“.

Sie nennen „Harry Potter“ in einem Atemzug mit „Paul und Paula“?

Aber natürlich.

Wenn Sie heute die Auswahl hätten und – sagen wir – auf der Berlinale eine Defa-Retrospektive machen könnten, welche Filme würden Sie zeigen?

Anfangen würde ich mit Staudte und vielleicht enden mit dem Studentenfilm „Willkommen in der Kantine“ von Peter Wels, weil der die Castorf-Ästhetik auf die Leinwand zu bringen versucht hat. Das wäre die Spannbreite. Ich würde auf jeden Fall beides zeigen wollen von der DDR-Filmgeschichte, ihren Glanz und ihr propagandistisches Elend. Man darf nicht nur die besten Filme, sondern muss auch etwas vom Durchschnitt zeigen.

Unterschlagen Sie uns bitte den Glanz nicht.

Konrad Wolf, Heiner Carow, Frank Beyer zum Beispiel. Und mit Stolz und Freude sehe ich, dass eine bestimmte Defa-Dokumentarfilm-Tradition heute wieder aufgegriffen wird: das Bemühen, komplizierte Menschen zu zeigen und sie nicht zu denunzieren. Wie das eben Andreas Dresen oder auch Thomas Heise so gut machen.

Was ist das Erbe des DDR-Films?

Anfangs sah es so aus, als würde alles vergessen werden. Aber dem ist nicht so. Wenn ich herumfahre auf dem Land, fragen die Leute immer wieder nach den alten Filmen und den Schauspielern von damals. Das ist doch gut. Die Defa-Filme sind eine Art visuelles Gedächtnis von dem, was war: Dokumente unserer Träume, auch der Eingrenzung unserer Träume. So verdreht manche Geschichten sind, geben sie doch Aufschluss über die Hoffnungen, auch über die enttäuschten, die es einmal gab in der DDR. Und damit zeigen sie manchmal mehr von der DDR-Realität, als man landläufig so denkt. Das macht sie noch heute spannend.

Eine letzte Frage aus aktuellem Anlass: Kennen Sie einen guten Antikriegsfilm?

Ich hasse Kriegsfilme. Ich kann nur CNN empfehlen. Der Bildschirm – grün, flackernd – wie beim Afghanistankrieg. Das ist wirklich antikriegerisch.