: Sieger über das Blau des Himmels
In Berlin zeigt das Deutsche Guggenheim eine dichte Werkschau aus der suprematistischen Phase von Kasimir Malewitsch. Dabei ist der revolutionäre russische Maler nicht bloß ablehnend gegenüber jedem Brotkorb-Realismus gewesen – seine Begeisterung für Reinheit hatte kosmische Dimensionen
von CHRISTIAN SEMLER
Was ist ein Klassiker? Einer, den man zitiert, ohne sich mit ihm zu beschäftigen. Kasimir Malewitsch ist der Klassiker der gegenstandslosen Malerei, also eingemeindet und abgehakt. Umso überraschender der Eindruck nach dem Rundgang durch die Malewitsch-Ausstellung im Deutschen Guggenheim Berlin. Man glaubte, dem Avantgardisten ein quasi antiquarisches, höfliches Interesse schuldig zu sein. Quadrat, Kreuz, Kreis, das kennen wir. Und dann werden wir überwältigt von der unmittelbaren Wirkung, vom Zugriff der Bilder. Man erwartete, sich in einer Art diskursivem Raum zu bewegen, wo Grundelemente von Farbe und Form auf analytische Weise vorgeführt werden. Stattdessen springt auf uns als Betrachter etwas von dem über, was Malewitsch als „Geist der gegenstandslosen Empfindung“ bezeichnet hat.
Eins wird in der Ausstellung klar, Malewitsch war kein Ingenieurs-Künstler, kein Reduktionist. Piet Mondrian, sein Freund, mit dem er oft in einem Atemzug genannt wird, erscheint eher als Antagonist denn als Weggenosse. Es geht nicht um Geometrie, sondern um Gefühle, um „reine“ Gefühle. Malewitsch ist kein Chemiker, als den ihn Viktor Schklowski schon 1919 bezeichnet hat, sondern Alchimist. Aber ein seltsamer Alchimist, der auf der Trennung der Elemente beharrt, um sie dann – auf spannungsreiche, dynamische Weise – zueinander in Beziehung zu setzen.
Das erste Gemälde, vom Eingang her als „Blickfang“ postiert, ist das „Schwarze Quadrat auf weißem Grund“, allerdings nicht in der Urfassung von 1915, sondern in der von 1927, angefertigt für die große Ausstellung in Berlin. Sorgfältiger Farbauftrag, genaue Messung – das Programmbild des Suprematismus. Ganz im Gegensatz zur nicht mehr transportfähigen Orginalfassung von 1915, die heute in der Moskauer Tretjakow-Galerie hängt und wo der rasche, ungeduldige Farbauftrag der Zeit nicht standgehalten hat. Um das Schwarze Quadrat sind Hauptwerke des Suprematismus aus der Zeit vor der Oktoberrevolution gruppiert. Diese Bilder überraschen durch ihre tänzerische Farbigkeit. Aber auch dort, wo nur mit Grundelementen und Farben gearbeitet wird, gibt es keine langweilige Statik, erst recht keine vorgegebene Perspektive. Formen springen vor, ziehen sich zurück, weisen Unregelmäßigkeiten auf, fransen an den Rändern aus. Wie es der Malewitsch-Kenner Gerd Steinmüller schon vor langer Zeit ausgedrückt hat: „Die weiße Bildfläche und die Farbformen sind weder auf kompositorische oder konstruktive Weise miteinander vermittelt noch gar in eins gesetzt, noch in nur rein zufälliger Weise aufeinander bezogen, noch gänzlich voneinander ablösbar … Sie stehen in einem Spannungsverhältnis, das eine Vielzahl von Stadien zwischen Identität und Differenz, zwischen Ordnung und Kontingenz durchläuft.“
Matthew Drutt, dem auch ein instruktiver Katalog zu danken ist, hat sich dafür entschieden, die Ausstellung allein der suprematistischen Phase im Werk von Malewitsch zu widmen. Lediglich einige der bekanntesten Bilder aus dessen kubo-futuristischer Phase sind am Beginn des Parcours zu sehen. Ihr Ende wird durch zwei Werke veranschaulicht, die für Malewitschs Rückkehr zur figurativen Malerei am Ende der 20er-Jahre stehen. Zudem ist es Drutt gelungen, Werke nicht nur aus den russischen Hauptmuseen in St. Petersburg und Moskau, sondern auch aus einer Reihe von Provinzmuseen auszuleihen. Er konnte sich ferner auf den Bestand des Amsterdamer Stedelijk stützen, dessen umfangreiche Sammlung den Grundstock für die berühmte Ausstellung des Jahres 1989 bildete und die jetzt durch den Fonds des engen Malewitsch-Vertrauten Chardschijew-Tscharga bereichert wird. Hinzu treten Werke aus der Sammlung Ludwig, der Galerie Gmurzynska, des Museum of Modern Art und einiger anderer Leihgeber. Schon die Aufzählung dieser Galerien verweist auf die verschlungenen Wege, die Malewitschs Werk seit seinem Tod genommen hat, auf Erwerbungen oft am Rande oder jenseits der Legalität, die bis in unsere Tage die Gerichte beschäftigen. Vergessen wir nicht, dass das Schicksal der Bilder – vor allem derer, die Malewitsch 1927 mit nach Berlin nahm und dort bei dem Kurator der Ausstellung Hugo Häring beließ – in der Nazizeit und während des Krieges mit dem Schicksal progressiver Ausstellungsmacher verbunden war. Die in der Sowjetunion verbliebenen Werke verschwanden vernichtungssicher im Depot – allerdings bei weitem nicht alle. Wenigstens sind die Bilder und das grafische Werk heute nicht weltweit zerstreut und zum größten Teil in öffentlichem Besitz, also zugänglich.
Drutts Entscheid, sich auf Malewitschs gegenstandslose, seine suprematistische Schaffensphase zu beschränken, bietet den Vorteil der Konzentration wie auch einer bis jetzt nicht gesehenen Vollständigkeit. Die Auswahl hätte sicher auch den Intentionen des Künstlers entsprochen, denn Malewitsch hat die Überwindung des „Brotkorb-Realismus“, also die Abbildung der umgebenden sichtbaren Realität, als Quintessenz seines Beitrags zur Kunst angesehen. Selbst eines seiner letzten Bilder, ein in holbeinscher Manier gemaltes Selbstporträt, ziert am rechten unteren Ende das Schwarze Quadrat.
Drutts Auswahl begegnet allerdings auch einigen Bedenken. Ein erstes bezieht sich auf die innere Einheit von Malewitschs gesamtem Werk. Seine Ursprünge in der Ikonenmalerei wie in der russischen Volkskunst waren im vergangenen Jahrzehnt Gegenstand zahlreicher Erörterungen, wie der Katalogband „Kazimir Malevich e le sacre icone russe“ verdeutlicht. Dort kann man vergleichen, kann verstehen lernen, wie nicht die religiöse Orthodoxie, wohl aber deren Formensprache das Werk Malewitschs geprägt hat. Das gilt auch und vor allem für seine letzte, die figurative Periode, die keineswegs Anpassung an das Kunstdiktat des „Sozialistischen Realismus“ war. Erst der ganze Malewitsch verdeutlicht uns Bruch wie Kontinuität, während die Einschränkung auf die suprematistische Phase zwar für eine leichte Anschlussfähigkeit an die westliche Avantgarde sorgt, aber die spezifisch russischen Quellen seiner Kunst und Philosophie verdunkelt. Ein zweiter Einwand betrifft die Tatsache, dass Malewitsch kein Egomane war wie Wassili Kandinsky, sondern aufs malerische Kollektiv ausgerichtet, ein eminenter Lehrer, ein Kunst-Revolutionär mit Anspruch auf gesellschaftliche Umgestaltung, auf Revolutionierung des Sehens und Gestaltens: „Der Umsturz der alten Welt soll in eure Handflächen eingeritzt sein“ war einer seiner Lieblingsslogans, als er in Witebsk die Gruppe „Unowis“ (Bekräftiger der neuen Kunst) gründete. Indem Malewitschs Wirken aus diesen ästhetischen wie politischen Zusammenhängen gelöst wird, gerät er allzu sehr zum Einzelkämpfer, wird er in den Rahmen des überkommenen Maler-Genie-Stereotyps gepresst.
Malewitsch war ein radikaler Verfechter künstlerischer Autonomie. Gleichzeitig aber sah er sich als Missionar einer Botschaft des neuen Sehens und einer von den Fesseln der „Dingwelt“ befreiten künstlerischen Energie. Wie viele Avantgardisten erlag er dem Irrtum, dass die ästhetische Revolution der politisch-sozialen gleichlaufen könne und müsse, und stürzte sich nach der Oktoberrevolution in vielfältige Organisationsaufgaben, in die Reorganisation des Museumswesens wie der künstlerischen Ausbildung. Den meisten der Bolschewiki hingegen war der oft mit einem Absolutheitsanspruch verbundene Eifer der Avantgarde verdächtig. Ihr Kunstgeschmack neigte eher dem kritischen Realismus eines Ilja Repin zu als dem radikalen Bruch mit der Tradition. Die den Avantgardisten und Malewitsch verhasste bürgerliche Kultur erschien ihnen im rückständigen Russland als unüberschreitbarer Horizont. Deshalb war das Bündnis der neuen Staatsmacht mit der Avantgarde auf wenige Jahre beschränkt, war taktisch motiviert, um unter dem Zeichen des Sozialistischen Realismus offener Feindschaft zu weichen.
Dennoch war Malewitsch untergründig mit einem bedeutenden Strom innerhalb des bolschewistischen Denkens verbunden. Er begriff seine Malerei als Ausdruck kosmischer Harmonie, das Weiß galt ihm als das Universum, zu dem man intuitiv gelangen könne, wenn man das Blau des Himmels durchstoße. Nicht umsonst gleichen viele seiner – mittlerweile untergegangenen – Plastiken, die „Architektone“ und „Planiten“, von denen einige in der Guggenheim-Ausstellung nachgebaut sind, den Weltraumstationen unserer Tage. Diese Art von utopischem Denken, die sich nicht mit der revolutionären Umgestaltung der Erde zufrieden gab, sondern nach den Sternen griff, die Begrenztheit der Zeit überwinden wollte, ja sogar die künftige Unsterblichkeit des kommunistischen Menschen postulierte, sie geisterte, sehr zum Kummer von Lenin, durch die Reihen der linken Bolschewiki. Selbst Malewitschs Chef, dem Volkskommissar Anatoli Lunatscharski, waren solche weit ausholenden Phantasmen nicht fremd. Der „Kosmismus“ nistete auch in den Köpfen der sowjetischen Weltraumpioniere, feierte unter Chruschtschow, wo sich die baldige Errichtung des Kommunismus und der Vorstoß ins Weltall zum ideologischen Komplex verbanden, ein kurzes Revival, um dann für immer zu erlöschen. Auch vom Weiß der hohen Wände des Berliner Guggenheim-Museums geht keine geheime, kosmische Botschaft aus. Es ist nur umgebauter Teil des Gebäudes der Deutschen Bank.
Bis 27. 4., Deutsche Guggenheim Berlin