: Mein Fahrraddieb
Das Frühjahr ist nicht mehr fern. Sehr viele umweltbewusste Menschen fahren dann am liebsten Fahrrad. Das ist auch die Saison für eine Sorte von Kriminellen, die einen üblen Ruf genießt. Ein Porträt
von NADINE BARTH
„Braucht jemand von euch ein Rad?“, fragt der Junge auf dem silbernen Mountainbike und bleibt vor dem Café auf den Pedalen stehen. Fast ein Kunststück, und ich denke, dass er gleich auf und ab springt, so wie die Kids auf ihren BMX-Rädern. „Dreißig Euro“, setzt er nach und blickt uns erwartungsvoll an.
Im Moment nicht“, sagt Jimmy, der neben mir sitzt. „Aber ich weiß vielleicht jemand, der eins will. Wie kann man dich erreichen?“ – „Ist schwierig, ich komm wieder rum“, meint der Junge auf dem Bike, lächelt etwas schief, schlechte Zähne kommen zum Vorschein, dann radelt er davon, hüpft den Bordstein hinunter. Seine Bomberjacke ist über den Rand der Jeans gerutscht, er schlängelt sich geschickt durch die Autos, Richtung Hauptbahnhof.
„Wer war das denn?“ frage ich Jimmy. „Kanntest du den?“ – „Er fährt fast jeden Tag hier vorbei. Verkauft gestohlene Räder.“ So wie mein letztes, denke ich. Es hatte meiner Großtante gehört. Ich sage Jimmy, dass er mich anrufen soll, wenn der Fahrraddieb wieder vorbeikommt. Ich will ein Interview mit ihm machen. Für den Preis eines Rades.
Das Treffen findet schon am nächsten Tag statt. Wir verabreden uns vor dem Café. „Hallo“, sagt der Fahrraddieb und gibt mir artig die Hand. Er ist zu Fuß da. „Wir gehen an die Alster“, sage ich und schaue in seine Augen. Sie sind klar. Er hat wieder die Bomberjacke an, obwohl es warm ist, die Jeans sind sauber, die Turnschuhe von Nike, und in seinen Ohrläppchen hängen Ringe.
Wir reden kaum, bis wir am Wasser sind, ich setze mich in die Sonne, er bleibt im Schatten. Zwischen uns lege ich das Diktiergerät. „Seit acht Jahren bin ich heroinabhängig“, sagt er und nimmt mir die Hoffnung auf eine drogenfreie Geschichte. „Weil eben der Kopf das Heroin will, bin ich rückfällig geworden, und um an das Geld ranzukommen, klau ich Fahrräder.“
Das ist zu einfach. Es muss einen Grund geben, warum er gerade Räder klaut; ich will wissen, wie viel er klaut, wie das überhaupt geht, ob er schon mal erwischt wurde, wie das ist, mit einem geklauten Rad durch die Nacht zu heizen, und ob er ein besonderes Verhältnis zu dieser Art der Fortbewegung hat. „Wie viele klaust du denn so?“ Bewusst verwende ich das Wort klauen.
Er ist auch direkt. „So dreizehn, vierzehn Stück pro Tag.“ – „So viel?“ Er, lässig: „Können auch mehr sein oder auch weniger. Kommt drauf an. Die meisten Fahrräder hole ich aus dem Keller raus.“ – „Und wie machst du das?“ – „Nur mit dem Schraubenzieher. Die normalen Schlösser dreht man einfach auf. Die meisten Fahrräder in den Kellerräumen sind ja nicht angeschlossen.“
Ich muss an meine Kinderclique denken, an das Streunen durch Gärten, Zäune, Treppen zu Kellern, in denen wir heimlich rauchten. „Und wie kommst du in den Keller? Klingelst du und sagst „Werbung“, oder?“ – „So ungefähr.“ Er legt sich nicht fest. Ist ja auch sein Know-how, Insiderwissen, und das Reinkommen ein unbedeutendes Detail. Irgendwie geht es immer. Wir öffnen selbst oft leichtsinnig die Haustür.
„Hast du einen bevorzugten Stadtteil?“ – „Also hier die Gegend ist mir zu riskant. Zu viel Polizei. Ich kann auch nicht ein Fahrrad klauen und an der nächsten Ecke wieder verkaufen. Da krieg ich Ärger. Weil die, die Fahrräder kaufen, kennen mich ja auch nach ’ner Weile und sagen, hör mal zu, das hast du doch hier um die Ecke geklaut.“
„Ist dir das schon mal passiert, dass du ein Fahrrad hattest und jemand kam und hat gesagt, ey, das ist doch meins?“ – „Schon öfter, und ich hab gesagt, das kann nicht angehen. Hab auf doof gemacht.“ Dann reden wir darüber, welche Ecken die besten sind, um Räder loszuwerden. Ich fühle mich wie ein Komplize. Er zählt Kneipen auf, im Schanzenviertel, auf dem Kiez, auch in St. Georg wird er viele los. Die längste Zeit, die er im Besitz eines Rades war, gibt er mit einer Stunde an. Eine einzige Stunde. Ich bin beeindruckt.
Er verweist auf die Großhändler auf der Reeperbahn. Die verscherbelten die Räder en gros in den Osten. Damit habe mein Fahrraddieb aber nichts zu tun. Ein Solist. Andere gingen zu zweit, zu dritt, er arbeite allein. „Kennst du dich mit Rädern aus?“ – „Nee.“ Er schüttelt den Kopf. „Ein paar Marken kenn ich. Stevens, Kettler, so welche halt.“
Er gibt zu, dass er auch auf Bestellung klaut. Eine bestimmte Farbe, eine bestimmte Marke, Sonderausstattung. Ein seltsamer Kreislauf, das Kaufen, Klauen, Verkaufen, fast wie in einer Kommune, wo man sein Rad nicht anschließt und einfach eines nimmt, wenn man eines braucht, und andere das auch machen und man dadurch immer eins zur Verfügung hat.
„Welches Viertel eignet sich denn besonders?“, will ich noch mal wissen. „Geht überall, wenn die Haustüren offen sind. Mit ’nem Schraubenzieher kriegt man fast jede Kellertür auf.“ – „Ist das ein spezielles Gerät?“ – „Nee, ein normaler flacher Schraubenzieher.“
Sein Rücken ist gekrümmt, die Knie hält er mit überkreuzten Händen fest. Er ist angespannt. „Hast du eine besondere Beziehung zu Fahrrädern?“ – „Nee.“ – „Denkst du dann, dass das ein Geldschein ist, auf dem du sitzt?“ – „Ja.“ Er grinst.
Und dann fährst du mit der U-Bahn wieder zurück? Zur nächsten Straße?“ Ich stelle mir vor, dass er Planquadrate abhakt, logische Wege geht, eine Straße nach der anderen abgrast, ein Haus nach dem anderen. Mit feinem Gespür dafür, welche Türen wann offen sind, in welchen Häusern die besten Räder stehen, welche Uhrzeit die geeignete ist. „Ich steig immer woanders aus. Die meisten Gegenden kenn ich ja schon.“
„Sag mal, wenn du jeden Tag dreizehn oder vierzehn Räder klaust, müssen das doch an die tausend sein?“ – „Glaube ich nicht.“ – „Rechne doch mal nach. Nur zehn Räder am Tag mal 365, das ist ein Jahr, das sind schon über dreitausend, und du machst das schon vier oder fünf Jahre lang.“ – „Ich zähle sie nicht. Könnte angehen.“
Pause. Ich beobachte einen Schwan, der zu uns geschwommen kommt. Vielleicht sind es schon zehntausend Räder. Selbst wenn es nur eins pro Tag ist … „Kannst du dich noch an das erste Rad erinnern, das du geklaust hast?“ Die Initiation. Der Dreh- und Angelpunkt. Wie alles anfing. Ich muss an ein deutsches HipHop-Stück denken. Weißt du noch, wie alles anfing, alles anfing …
„Das war mit ’nem Kollegen. So rumgelabert. Ich weiß noch, dass ich eine tierische Angst hatte und da nur noch rauswollte, und nachher hatten wir zwei Fahrräder, und dann war ich ganz glücklich.“ Er weiß nicht mehr, wie das Rad aussah. Das Gefühl ist geblieben, die Details nicht. Irgendein Trekkingfahrrad mit dünnen Rädern. Blau oder grün. Schließlich führt er nicht Buch darüber. Geklaut, verkauft, vergessen.
Manchmal, sicher, da würde er gern eines behalten, so schöne Fahrräder hat er schon gehabt. Und schon weicht er wieder aus. Auf den Nebenschauplatz Drogen, seinen Hauptschauplatz. Die abgebrochene Therapie. Versprechungen der Sozialämter. Vater Fernfahrer, viel unterwegs, Wortlosigkeit, eine Lehre als Gebäudereiniger, weil der Vater seiner damaligen Freundin eine Reinigungsfirma hatte.
Ach ja, vorher Sonderschule. Da hake ich nach. Sonderschule muss nicht zwingend sein. „Weil ich zu faul war. Mein Vater wollte mir, weil ich in Mathe schlecht war, das mit Prügeln eintrichtern. Der Vorschlag kam von den Lehrern. Damals hab ich das gar nicht so mitgekriegt, nur jetzt ärger ich mich.“
Und dann erzählt er, dass er zwei Jahre lang wenigstens eine Wohnung hatte. In einem Vorort. U-Bahn-Surfen. Graffiti, Gewalt. „Und wie kam das mit den Drogen?“ – „Falscher Umgang, falsche Leute. Probleme mit Eltern, neugierig.“ Das rattert er runter wie aus einem Katalog für Problemfälle. Ich will mehr über die Fahrräder wissen, die er klaut. Ich weiß immer noch zu wenig.
Er bestätigt nur, dass er das schönste Rad aus dem Keller mitnimmt, das sei doch klar. Wir drehen uns im Kreis. „Hast du Herzklopfen?“ – „Jeden Tag. Ich brauch nur ein Ding machen, und ich geh dann wieder innen Knast.“ Also Knast auch. Achtzehn Monate. Bewohner hatten ihn gesehen, Zivilpolizei kam hinter ihm her.
Er würde gern Fernfahrer werden. Aber dafür braucht er einen Führerschein. Den er nicht hat. Und für den Führerschein eine feste Adresse. Die er nicht hat. Das ist sein Kreis, aus dem er nicht herauskommt. „Tut es dir manchmal Leid?“, frage ich. Hat er einen Hauch schlechtes Gewissen? „Hast du mal jemand gesehen, dem ein Rad gehört?“ – „Ich denk in dem Moment nur ans Geld, da sind meine Schmerzen da. Wenn die drin sind, guck ich ja nicht, da spring ich drauf und fahr weg.“
Klack. Das Band ist zu Ende. Eine Dreiviertelstunde um. Ich drehe die Kassette nicht um. Nur ein Detail möchte ich noch wissen. Ein Detail, das mich angeht. Ich spreche ihn auf das Fahrrad meiner Großtante an. „Das kann ich nicht gewesen sein. Das sind andere Leute. Ich habe nur meinen Schraubenzieher.“ Ich glaube ihm.
Die Sonne ist gewandert. Wir sitzen jetzt beide im Schatten. Von unten kriecht Feuchtigkeit hoch. Ich hocke mich hin, schon bereit zu gehen. „Hattest du als Kind ein Rad?“, frage ich. Er bleibt sitzen. „So eins mit einem ganz hohen Sattel.“ – „Ein Bonanzarad“, nicke ich. „Hatte ich auch. Meines war silbern.“ – „Orange war es. So ganz leuchtend orange. Fuhr auch obergeil.“ – „Und es wurde nicht geklaut, nehme ich an.“ – „Nee, das hatte mein Bruder noch.“ – „Und wenn?“ – „Hätte ich bestimmt ein neues gekriegt.“
Da ist er sich sicher. Die Kids heute bekommen auch schnell ein neues. Und die meisten sind versichert. Letztlich beklaut der Fahrraddieb die Versicherung. Ich stehe auf. Er folgt mir. Beiläufig stecke ich ihm sein Honorar zu. Dafür hätte ich ein Fahrrad haben können.
NADINE BARTH, 38, stellvertretende Chefredakteurin der Amica, lebt in Hamburg & Berlin