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Archiv-Artikel

Die Entdeckung der Türkei

Deutschlands große Leitmedien verfügen heute alle über einen Korrespondenten in Istanbul. Drei von ihnen – Kai Strittmatter („SZ“), Rainer Hermann („FAZ“) und Annette Großbongardt („Spiegel“) – haben jetzt umfangreiche Betrachtungen über Land und Leute vorgelegt. In ihrer Bewertung der politischen Klasse liegen sie überraschend nahe beieinander

„Auch das Alltagsleben hat eine Geschichte, und zwar nicht nur in dem Sinn, dass es von gesellschaftlichen Revolutionen radikal verändert wird.“ (Agnes Heller)

VON DANIEL BAX

Dass die Türkei Richtung Westen blickt, seit der Staat 1923 aus den Resten des osmanischen Weltreichs zusammengekehrt wurde, ist ein Allgemeinplatz. Wie sehr sich die Türkei darüber definiert, wie sie vom Westen wahrgenommen wird, ist für das Verständnis des Landes aber ebenso zentral. Es erklärt, zumindest zum Teil, das hohe Maß an Gereiztheit, mit der auf Kritik aus Europa oft reflexhaft reagiert wird. Es ist die Gekränktheit eines Liebhabers, der sich verschmäht fühlt.

In den letzten zehn Jahren ist das westliche Interesse an der Türkei, bedingt durch die Beitrittsverhandlungen mit der EU, deutlich gestiegen. Längst vorbei ist jene Zeit, als viele deutsche Zeitungen ihre Türkei-Berichterstattung noch einem Korrespondenten überließen, der von Athen aus über die Ägäis blickte. Heute verfügt jedes Medium, das etwas auf sich hält, über eigene Berichterstatter vor Ort.

Die Journalistin Annette Großbongardt etwa war von 2005 bis 2007 für den Spiegel am Bosporus. Ihr Buch „Istanbul Blues“ streift vom Kopftuchstreit bis zur Kurdenfrage, von der sozialen Kluft bis zum schönen Kapitel über „Verständigungsschwierigkeiten“ zwischen Türken und Deutschen die wesentlichen Konflikte, was es zur idealen Einstiegslektüre macht.

Vor allem aber ist es, aufgrund der klaren Sprache und der Genauigkeit ihrer Beobachtungen, ein Lesegenuss, den man jedem nur ans Herz legen kann. Schließlich hat die Spiegel-Autorin viele Personen getroffen, die in den letzten Jahren eine wichtige Rolle gespielt haben – Ali Bardakoglu, den Chef des Religionsministeriums, der die offizielle Islam-Auslegung vertritt, die Professorin Türkan Saylan, die in den vergangenen Jahren viele Demonstrationen gegen die Regierung anführte, oder den nationalistischen Anwalt Kerim Kerincsiz, der durch seine Klagen u. a. gegen Orhan Pamuk notorische Berühmtheit erlangte.

Ausschließlich aus Porträts setzt sich das „Istanbul“-Buch von Kai Strittmatter zusammen. Der Türkeikorrespondent der Süddeutschen Zeitung erzählt darin nicht nur die Geschichte der Stadt, in der der Puls des Landes schlägt. Sein Buch handelt auch davon, wie die Türkei ihr osmanisches Erbe und ihre historische Vielfalt wiederentdeckt.

Dafür stehen nicht nur der Kunsthistoriker, der heute als Direktor über den Topkapi-Palast herrscht, oder die Industriellen-Familie, deren Mitglieder sich als Mäzene und Museumsgründer betätigen. Diese Entwicklung wird auch durch die kurdische Sängerin Aynur, den Modedesigner Ümit Ünal oder die Schriftstellerin Elif Shafak illustriert – sie alle stehen für einen neuen Umgang mit der türkischen Geschichte, der lange Verdrängtes wieder sichtbar macht.

Die Wiederentdeckung der Vergangenheit habe „in den politischen Lagern für Konfusion gesorgt“, schreibt Strittmatter an einer Stelle beiläufig. Dieser Konfusion widmet sich Rainer Hermann. „Wohin geht die türkische Gesellschaft?“, fragt der Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sein nüchterner Sachbuchtitel, der dem „Kulturkampf in der Türkei“ nachspürt, bildet auf den ersten Blick den denkbar größten Gegensatz zum großformatigen „Istanbul“-Bildband seines SZ-Kollegen, der sich, mit Aufnahmen des Schweizer Fotografen Reto Guntli opulent ausgestattet, wie ein dekorativer Coffee-Table-Schmuck ausnimmt. Tatsächlich aber ist er eine hervorragende Ergänzung.

Reiner Hermann hat siebzehn Jahre in der Türkei verbracht und nähert sich seinem Sujet gut strukturiert und streng analytisch. Hart ins Gericht geht der studierte Islamwissenschaftler mit der kemalistischen Staatsideologie, die er eine „Ersatzreligion“ nennt, und dem türkischen Nationalismus mit seiner Paranoia vor allem und jedem. Dem setzt er einen gesellschaftlichen Wandel entgegen, der sich nicht auf Klischeebegriffe wie „Islamisierung“ reduzieren lasse.

Dieser Gegensatz zwischen gesellschaftlicher Dynamik hier und staatlichem Korsett da, den Hermann aufmacht, mag ein wenig schematisch sein. Er blendet auch aus, dass aus der Gesellschaft nicht immer nur Gutes erwächst, wie die pogromartigen Eruptionen gegen Aleviten und andere Minderheiten in der türkischen Geschichte gezeigt haben. Dennoch darf man sein Buch schon jetzt zu den Standardwerken über die Türkei zählen. Mit seiner Materialfülle genügt es fast schon wissenschaftlichen Ansprüchen, durch den flüssigen journalistischen Stil liest es sich zugleich oft wie ein Krimi, außerdem ist es auf der Höhe der jüngsten Entwicklung.

Im Konflikt um die Regierungspartei AKP, deren Verbot im August gerade noch abgewendet wurde, sieht Hermann weniger eine Konkurrenz zwischen Säkularisten und Islamisten am Werk als die zwischen einer staatlichen Elite und einer demografischen Mehrheit, die sich nicht länger gängeln lassen möchte. Wem seine Sympathien gelten, verhehlt er dabei nicht: Es ist der „Realo aus dem Hafenviertel“, Premier Erdogan, der die aufstrebende „Gegenelite“ Anatoliens repräsentiere und dem Land einen Modernisierungs- und Demokratieschub verpasst habe.

Auffällig ist, dass alle drei Korrespondenten, obschon sie für sehr unterschiedliche Publikationen arbeiten, in dieser positiven Einschätzung Erdogans und seines Projekts der Versöhnung von Islam und Demokratie recht nahe beieinanderliegen. Der intellektuellen und politischen Elite in der Türkei, die das kritischer sieht, muss dieses westliche Urteil zu knabbern geben.

Annette Großbongardt: „Istanbul Blues. Die Türkei zwischen Tradition und Moderne“. Rowohlt Verlag, Berlin 2008, 224 Seiten, 17,90 €ĽKai Strittmatter: „Istanbul. Metropole zwischen den Welten“. Fotografien von Reto Guntli. Knesebeck Ver- lag, München 2008, 208 Seiten, 49,95 €ĽRainer Hermann: „Wohin geht die türkische Gesellschaft? Kulturkampf in der Türkei“. DTV premium, München 2008, 320 Seiten, 14,90 €