: Ehrgeizige Eltern im Recht
Umstrittene Schullaufbahnempfehlungen in Niedersachsen: Neun von zehn Kindern schaffen das Gymnasium zumindest bis zur sechsten Klasse, obwohl ihnen die Lehrer anderes geraten haben
VON KAI SCHÖNEBERG
Gerne regt sich Elisabeth Heister-Neumann über renitente Väter und Mütter auf: Es sei „auffällig seit Jahren“, dass „deutlich mehr Eltern ihre Kinder aufs Gymnasium schickten, obwohl eine entsprechende Empfehlung nicht vorliegt“, sagte Niedersachsens CDU-Kultusministerin erst vor zwei Monaten. Den „falschen Ehrgeiz“ der Eltern, ihre Kinder in höhere Schulformen zu schicken, belegte sie auch mit Zahlen: Zu Beginn des Schuljahres 2006 / 2007 hätten mehr als 4.000 Schüler von der Real- zur Hauptschule und rund 3.800 vom Gymnasium auf die Realschule wechseln müssen.
In Wirklichkeit hat die so genannte „Abschulung“ indes kaum etwas mit nicht befolgten Laufbahnempfehlungen und daran gescheiterten Schülern zu tun: In Niedersachsen schaffen neun von zehn Kindern der Klassen 5 und 6, denen die Lehrer die Realschule empfohlen haben, das Gymnasium – darauf verweist die grüne Schulexpertin Ina Korter. „Die Schullaufbahnempfehlungen sind mindestens fragwürdig“, sagt sie. Erneut zeige sich, dass eine belastbare Prognose des Lernerfolgs im Alter von neun oder zehn Jahren kaum möglich sei.
Das „Aussieben nach der vierten Klasse“ komme viel zu früh und werde der Entwicklung von Kindern nicht gerecht, bestätigte die bildungspolitische Sprecherin der SPD, Frauke Heiligenstadt. „Manche Jungs blühen erst in der 8. Klasse richtig auf“ – dann säßen sie aber häufig schon in der Hauptschule, sagt Korter.
Wie aus der Antwort der Landesregierung auf eine Grünen-Anfrage hervor geht, wechseln nur rund zehn Prozent der Schüler, die ohne Empfehlung das Gymnasium besuchen, nach der sechsten Klasse auf die Realschule. „Das heißt: 90 Prozent schaffen die Leistungsanforderungen“, sagt Korter. Von den rund 3.500 Schülern, die im Schuljahr 2004 / 2005 ohne entsprechende Empfehlung auf ein Gymnasium gegangen sind, hätten lediglich 368 diese Schulform nach der sechsten Klasse verlassen, sagt die Grüne. Ähnlich ergeht es designierten Hauptschülern auf der Realschule.
Die Schulempfehlungen verschlechterten die ohnehin schlechten Chancen bildungsferner Schichten, denn diese „richten sich stärker nach der Empfehlung der Lehrer“, sagt Korter. Untersuchungen zeigten, dass Akademikerkinder bei gleicher Leistung viel eher die Empfehlung für eine höhere Schulform bekommen als Kinder aus Arbeiterfamilien.
Statt für das Lehrer-Votum in der Grundschule plädiert die Grüne für individuelle Lernbegleitung der Kleinsten. Dass landesweite Daten über den Schulerfolg nur aus dem Schuljahr 2005 / 2006 vorliegen, bringt die Grüne auf die Palme: „Dieses Agieren nach dem Motto, ‚Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß‘ ist angesichts der Bedeutung der Empfehlung für den weiteren Bildungs- und Lebensweg schlicht unverantwortlich.“
Im laufenden Schuljahr besuchen 13,2 Prozent der niedersächsischen Fünfklässler die Hauptschule, 39 Prozent die Realschule und 42,1 Prozent das Gymnasium, fünf Prozent gehen auf eine Integrierte Gesamtschule. Immerhin: Das Absterben der Hauptschule scheint damit vorerst gestoppt. Die Zahl der Anmeldungen ist auf dem Niveau des Vorjahrs geblieben. Darin sehen CDU und FDP eine Bestätigung ihrer Politik, Hauptschulen mit Sozialarbeitern und Ganztagsbetrieb zu stützen.
Über fünf Jahre hinweg betrachtet hätten sich die Anmeldezahlen bei den Hauptschulen allerdings halbiert, sagt Korter. „So haben die die Hauptschulen gestärkt.“