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Archiv-Artikel

Schöne neue Arbeitswelt

Die ForscherInnen der Bremer Universität haben das „Wearable Computing“ bis zur Marktreife entwickelt: Ärzte können als wandelnde Computer agieren, Sensor-bestückte Feuerwehrleute sind über Google Earth jederzeit fernsteuerbar

ZUKUNFTS-SCHMIEDE

Das im Jahr 1995 gegründete Technologie-Zentrum Informatik (TZI) an der Bremer Universität versteht sich als Schnittstelle zwischen Forschung und Wirtschaft. Neben dem nun zur Marktreife geführten „Wearable Computing“ beschäftigen sich die derzeit 170 MitarbeiterInnen – das Institut soll noch weiter vergrößert werden – vor allem mit Feldern wie „Digitaler Wirklichkeit“ und „Adaptiver Kommunikation“.  HB

VON HENNING BLEYL

Science Fiction ist vorbei, die Vermarktung kann beginnen: Nach über zehnjähriger Entwicklung haben ForscherInnen des Technologie-Zentrums Informatik (TZI) der Bremer Universität jetzt erstmals Datenhandschuhe und andere in Gürtelschnallen und Kleidung integrierte Computerelemente so weit entwickelt, dass sie großflächig anwendbar sind. Der Produktgruppen-Name: „Wearable Computing“. Kombinierte Mini-Monitoren, die auf Augenhöhe getragen werden, machen sie Menschen bei Bedarf zum mobilen Computer.

Am Bremer TZI wird das weltweit größte Forschungsprojekt für Wearable Computing koordiniert: 42 Partner aus Wissenschaft und Wirtschaft sind beteiligt, darunter SAP, Microsoft, Hewlett Packard, Zeiss und EADS. Die EU ist mit 24 Millionen Euro dabei – das ist eine ihrer bislang größten Forschungs-Investitionen.

Die Anwendungen sind vielfältig: Sie liegen in der Auto- und Flugzeugmontage ebenso wie im privaten Bereich, „ambient assisting living“ etwa soll die eigenen vier Wände zum bewohnbaren Computer machen. Im süditalienischen Paestum kann man sich per GPS-gestütztem Videoguide durch die antiken Ruinen leiten lassen, bei der Pariser Feuerwehr wird die Bremer Technik bereits für den Ernstfall genutzt. Ein Sensor in den Stiefeln des Einsatzkommandos, kombiniert mit den von Google Earth zur Verfügung gestellten Bildern, machen die Feuerwehrleute für die Einsatzzentrale durchgehend zu orten – auch in rauchgefüllten Gebäuden. Die bisherigen Erfahrungen zeigen laut Projektmanager Michael Lawo, Professor für Praktische Informatik, dass die Opferortung mit Hilfe der neuen Technik doppelt so schnell möglich ist.

Die Sprachsteuerung der Computer allerdings, die wegen der internationalen Anwendbarkeit auf Englisch basiert, habe sich als schwierig erwiesen: „Die Computer kamen nicht mit dem französischen Akzent zurecht“, sagt Lawo, auch das harte norddeutsche „th“ bereite Probleme. Daher reagieren die tragbaren Systeme vor allem auf haptische Signale. Dem „Datenhandschuh“ kommt dabei eine zentrale Rolle zu: Ein äußerlich wie eine Herdhilfe aussehender Übezieher, der voll feinster Elektronik steckt. Die Ärzte im Krankenhaus des österreichischen Steyr benutzen ihn bereits, um ihre Visiten zu rationalisieren. Statt nach den Krankenbesuchen im Dienstzimmer Papierkram zu erledigen, loggen sie sich direkt am Patientenbett in das W-Lan des Krankenhauses ein. Diagnosen und Therapieanweisungen gelangen sofort in die elektronischen Krankenakten, Röntgenaufnahmen werden direkt geordert. Allerdings gibt es noch atmosphärische Probleme: Um die elektronischen Patientenakten zu aktivieren, sind eine Ab- und eine Seitwärtsbewegung mit dem Handschuh erforderlich. „Nicht alle Patienten“, sagt Lawo, „mögen dies Zeichen an ihrem Bett“.

Die ungewollte Aussegnung stelle jedoch ein lösbares Problem dar. Und so, wie es die oberösterreichischen PatientInnen andererseits „toll“ fänden, dass jetzt an allen Betten auch für sie selbst nutzbare Monitore montiert seien, so fühlten sich mit Wearable Computing ausgestattete ArbeitnehmerInnen „deutlich aufgewertet“. Sicher sei es nicht jedermanns Sache, sich morgens zunächst eine Viertelstunde zu verkabeln. Mittlerweile hätten sich die Ärzte jedoch an den Flachrechner vor dem Bauch gewöhnt. Auch die Angestellten etwa im Bremer Mercedes-Werk seien „stolz“ auf ihre neue Ausstattung, die sie zu „Wissens-Arbeitern“ aufwerte.

„Wir machen das in enger Abstimmung mit den Betriebsräten“, sagt Otthein Herzog, Professor für Künstliche Intelligenz. Schließlich gelte Weareable Computing mittlerweile als „einzige Chance, die Produktivität in Hochlohnländern zu erhalten“. Sind die Personalvertreter auch mit der potentiellen Total-Überwachbarkeit einverstanden? „Natürlich ist das ein Thema“, sagt Lawo. Doch der Betriebsrat der tschechischen Skoda-Werke etwa habe versichert: „Hier sind sowieso schon überall Videokameras, das macht keinen Unterschied mehr.“

Im Übrigen geht der Trend zur Bionkularität. Was nichts mit Ökologie, sondern mit Monitor-Maximierung zu tun hat: Statt einem haben die „Wissens-Arbeiter“ jetzt zwei Bildschirmchen vor den Augen. „Unsere Probanden fanden es zu anstrengend, einäugig zu lesen“, sagt Lawo. Im Prinzip funktioniere die Gesichtsfeld-Aufteilung wie bei einer Halbrandbrille: Ganz oben die Monitore, die bei Bedarf wie Sonnengläser ganz hochklappbar sind, in der Mitte Normalsicht und unten gegebenenfalls die Gläser der Lesebrille. Solche durch die „Head-Mounted Displays“ dreigeteilten Gesichtsfelder sind nach Lawos Ansicht keinesfalls futuristische Theorie-Konstrukte.

Wo sind für die Forscher selbst die Grenzen des Wünschenswerten? Es wäre „furchtbar“, sagt Lawo, wenn Arbeitsprozesse derart ferngesteuert würden, dass Jemand nur noch im engmaschigen Rhythmus von Anweisung und Bestätigung arbeite. Wenn die menschliche Sensorik also nur noch eine Erweiterung der maschinellen sei. „Dann sind wir wirklich nur noch ein Zahnrädchen.“ Wie will Lawo eine derartige Roboterisierung vermeiden? „Indem“, so Lawos Antwort bündig, „wir selbst davor warnen“.