Ein Wort, das wächst und sich verändert

Der Angst vor dem Uneindeutigen gilt Jonas Hassen Khemiris Stück „Invasion“. Neco Çelik hat es am HAU 3 mit etwas zu viel Testosteronüberschuss inszeniert – voll krasse türkische Jungs und ihre milchgesichtigen Gegenspieler

Sitzen drei Studenten mit einer dunkelgelockten Kommilitonin in einer Berliner Bar. Sagt der erste: „Deine Eltern sind Kurden? Mein Nachbar ist auch Pakistaner, aber echt nett.“ Sagt der zweite: „Das muss schwer für dich gewesen sein, aufzuwachsen zwischen zwei Kulturen.“ Sagt der dritte: „Also, bei weiblicher Genitalverstümmelung, da hört es bei mir auf.“ Kommt ein Türke dazu und freut sich: „Guck mal, die Lady, die Schnecke, krass. Das ist keine Mogelpackung, das ist beste Ware, Edelstil!“

Klingt wie ein Kalauer, ist aber eine Szene aus „Invasion!“. Selbstredend als Farce gemeint. Aber meinen reicht nicht, wenn das Stück, zumindest in der Berliner Inszenierung, über das lustige Vorspielen geballter Klischees kaum hinauskommt.

„Invasion!“ ist das erste Theatersück des Stockholmer Autors Jonas Hassen Khemiri. 2003 hatte der Sohn eines tunesischen Vaters und einer schwedischen Mutter seinen ersten Roman veröffentlicht, „Das Kamel ohne Höcker“. Der 25-Jährige landete damit einen Bestseller, der sowohl von der Kritik ausgezeichnet als auch erfolgreich verfilmt wurde. Es folgten ein zweiter Roman und ein Stückauftrag von Stockholms Stadsteater, der in „Invasion!“, einer Residency am Londoner Royal Court Theatre und einem DAAD-Stipendium in Berlin mündete. Auch das Stück selbst machte international Karriere: In Deutschland fand die Erstaufführung im Frühjahr an den Münchner Kammerspielen statt, und seitdem steht das Stück auf vielen der hiesigen Spielpläne. Seit Mittwoch auch in Berlin, wo es Çelik am HAU3 einrichtete.

Das beginnt durchaus vielversprechend. Auf der Vorbühne wird ein schwedischer Klassiker deklamiert, was ein paar Migrantenkids – mit ihrer Schulklasse zu skandinavischer Hochkultur verdonnert – ziemlich nervt. Sie stören die Vorstellung, fliegen raus, nehmen aber doch etwas mit: „Abulkasem“, den Namen eines der Protagonisten. Fortan heißt alles, was sie nervt, „Abulkasem“. Anfangs jedenfalls, denn bald schon, wie einer der Jungs beschreibt, „veränderte sich das Wort, wuchs und verwandelte sich“. „Abulkasem“ steht plötzlich auch für „geil“, „Halt die Fresse!“, für „Ich weiß nicht“. Ein leeres Gefäß, das beliebig gefüllt werden kann und seine Funktion in erster Linie als Kodewort hat: Wer es benutzt, gehört dazu. Wer nicht dazugehört, hat dagegen keine Chance, es je zu erfassen.

Khemiri erzählt von einer Begriffskarriere, deren Sprengkraft in ihrer lustvollen Uneindeutigkeit liegt. Ein Prinzip, das das rationale Abendland aufs Tiefste verunsichert. Was nicht eindeutig definierbar ist, ist nicht kontrollierbar und damit gefährlich. Das Wort verselbstständigt sich, und aus dem Spiel der Kids wird über verschiedene Transformationen Stoff für TV-Expertenrunden: Wer ist dieser Abulkasem? Wo kommt er her? Was will er? Die Antwort liegt nahe: Der Mann ist ein Terrorist. Wie alles, was wir nicht kennen und nicht greifen können und in der hilflosen Umkreisung stets als Projektionsfläche der ureigenen Ängste missbrauchen.

Diese abwegige, aber nicht auszuschließende Entwicklung eines Kinderspiels zu einer Frage der nationalen Sicherheit ist das Herzstück von Khemiris „Invasion!“. Neco Çelik lässt es leider außer Acht. „Abulkasem“ verlässt bei ihm nie die pubertäre Spielwelt; was bei Khemiri seriöse Talkshows sind, inszeniert er als disziplinarische Jugendtheaterproben mit ebenjenen testosteronüberschüssigen Kids, die den Begriff erfunden haben. Gelingt es ihnen bei Khemiri, ein Land in Aufruhr zu versetzen, wandelt sich in Berlin „Abulkasem“ nur als Sozialpädagogenkeule gegen sie. Die politische Dimension des Stücks wird seiner Utopie beraubt und auf Stereotype reduziert: voll krasse türkische Jungs und ihre milchgesichtigen deutschen Gegenspieler.

Vor zwei Jahren gelang Çelik, bereits als Filmregisseur renommiert, mit der Uraufführung von Feridun Zaimoglus „Schwarze Jungfrauen“ am HAU eine ausgezeichnete Produktion. Sie überzeugte, weil Çelik sparsam inszenierte und ganz auf den Doku-Text der Musliminnen setzte, die sich äußerst provokant jenseits aller gängigen Vorstellungen platzierten. In „Invasion!“ dagegen macht der Regisseur nicht einmal vor Slow-Mo-Anbagger-Pantomime im Rotlicht halt.

Es scheint, als sei bei Çelik selbst der Pädagoge durchgegangen, als der er bis heute in der Kreuzberger Naunynritze arbeitet. Zwischen „krass“ und „Verdammtesschwulfotzenschwanzanusarschleckendesmotherfuckopfer“ – ein bisschen mehr Komplexität verträgt die Hauptstadt schon.

CHRISTIANE KÜHL

HAU3, bis 19. Oktober, 20 Uhr