Ernstfall Kindererziehung

Kinder und Eltern – ein täglicher Kampf, der nicht mehr mit dem Rohrstock ausgetragen wird. Auf halber Strecke zwischen autoritärem und antiautoritärem Erziehen liegt ein unbestimmtes „Grenzensetzen“. Doch was bedeutet es genau?

von CHRISTIAN FÜLLER

Der Ernstfall begann, als Dominik sein Schäufelchen nicht mehr nur zum Buddeln benutzte. Er nahm das Plastikding und schlug es seinem Spielpartner über den Kopf. Zwei, drei, viele Male. Schon rannte Mami zu einem erbärmlich brüllenden Dreijährigen. Wenig später schrie der halbe Spielplatz. Die Mutter, der kleine Dominik, dessen Opfer – und Dominiks herbeigeeilter Vater.

Der griff beherzt ein. Weil er fürchtete, es könnte Backpfeifen für seinen Sohn setzen – von einer Fremden. Was der Vater verteidigte, war allerdings nicht die Unversehrtheit seines Sohnes, sondern sein eigenes Recht. Er kämpfte um sein Recht auf Erziehung. Ganz instinktiv: Mein Kind schlägt keiner!

Der Vater als schnelle Eingreiftruppe – das mutet an wie der öffentlich zelebrierte Idealfall elterlichen Erziehungsrechts. Und doch ist er eine Schimäre, eine Täuschung, nichts als ein Sonderfall im alltäglichen Erziehungsdrama. Wenn Erziehen Thema ist, dann geht es, anders, als es die Schlachten um die „Lufthoheit über den Kinderbetten“ (SPD-General Olaf Scholz) vermuten lassen, um alles andere als Eindeutigkeit. Denn heutzutage gibt es keine kohärente Idee von Erziehung mehr.

Weihnachtszeit in der Bahn, Kinderabteil: Die allein Erziehende schleppt eine eigene Reisetasche voll Spielsachen und Geschenken für ihren Zweijährigen mit. Es wird, so viel ist ersichtlich, Bonbons und Schokolade hageln. Aber wehe, wenn der Filius der fürsorglichen Belagerung entsagt. Dann ist die Verwöhnmami, man kennt den Typus, bereit, seinen Willen zu brechen – mit einer Ohrfeige. Und reagiert nicht auch der superliberale Vater aus akademischem Milieu ausgeprochen unpädagogisch? Nur weil sein Dreijähriger die teure Keramikschale aus der Toskana ganz allein zu Tisch tragen möchte. Wo man auch hinsieht – es herrscht ein Durcheinander von autoritären und antiautoritären Erziehungsideen.

Dabei ist Erziehung den Eltern gar nicht das Wichtigste. Da mag das Grundgesetz das Erziehen ihnen noch so erhaben als „natürliches Recht“ überantworten. Im Zentrum der Familien, zumal mit allein Erziehenden und Patchworkkonstruktionen, steht jedoch zunächst Organisation, die Lösung jener banalen Alltagsfragen, die im Zeitalter der Selbstverwirklichung leicht zu Schicksalsfragen mutieren. Kind, Küche, Karriere – wie kriegen wir das alles unter einen Hut und wirken doch cool dabei? Das ist der Dreisatz, an dem Eltern knobeln. Erziehung ist allenfalls das Dazwischen und das Danach.

Die Dramen spielen sich zu Hause ab. Sie werden in einem zähen Stellungskampf ausgefochten zwischen – oft – spät zeugenden Eltern und – fast immer – frühreifen Kindern. Stress ist allgegenwärtig. Morgens zum Beispiel, beim Schnellanziehwettbewerb – um den Bus doch wieder zu verpassen. Oder mittags, wenn ein Minigourmet einen Klacks Marmelade in der Kartoffelsuppe versenken will.

Robert hält die Tür des Kühlschranks auf. „Ich nehme heute zwei Jogurt“, dekretiert er, selbstbewusst in den Kühler zeigend. Und seine Augen verraten: Das ist ein Test. Der Probelauf dafür, ob er täglich zwei Jogurt für sich zum Standard erklären kann. Kathrin und ich wissen, was er jetzt bespielen wird – die ganze Klaviatur, mit der Kinder ihren Willen geltend zu machen suchen. Robert wird das Zauberwort „bitte“ viel zärtlicher spendieren als üblich. Oder gekonnt wie ein Bühnenprofi Mitleid erregende Zerknirschung mimen. Vielleicht wird er – er tut es selten – Terror machen: mit Gekreisch, Gestrampel und Hysterie überhaupt.

Ein Jogurt oder zwei? Klingt das nicht wie ein läppisches Detail? Die Situation lässt sich meistern, klar. Man soll aus einem Fruchtzwerg keinen Elefanten machen. Es geht eigentlich um nichts, finden zufällig zu Besuch Weilende. Es geht um alles, sorgen sich nervöse Eltern: Was wird der nächste Anlass sein für Trotzanfälle? Und: Wie kann ein Steppke von drei Jahren die Weber’sche Definition von Macht schon so wirkungsvoll demonstrieren: die Fähigkeit, durch gezielten Einsatz eigener Mittel seinen Willen durchzusetzen. Was, fragen sich die Eltern, wird ihr Kind erst mit vierzehn anstellen?

Dabei sind die Kämpfe um den zweiten Jogurt oder das Überraschungsei an der Supermarktkasse nur Episoden am Rande. Wir reiben uns an den Rahmenveranstaltungen eines Tages auf, in dessen Mittelpunkt Inhalte stehen sollten: das konzentrierte Spiel mit Bauklötzen, erste Pinselübungen am Tuschkasten, später das Alphabet oder vielleicht auch der Klavierunterricht.

Was wir schnell merken: Wir sind nicht die Erziehungsberechtigten, wir sind Partner unserer Kinder. Alles, was wir tun können, ist, ihre Anstöße aufzugreifen, sie zu moderieren, sie zu Anlässen für Bildungserlebnisse umzufunktionieren. Simon, Lia, Maria, Paul, Bruno, Alfons kurz: alle Kinder, die ich kenne, sind irre clever. Ihr Verstand ist noch gar nicht voll entwickelt, aber ihre soziale Intelligenz scheint unermesslich. Kids 2000 plus sind so schlagfertig, dass es uns die Sprache verschlägt. Wir aber sind es, die sie erziehen sollen.

Und es hilft ja kaum einer. Nicht unsere eigenen Eltern. Die nur alles besser wissen und von deren Eltern wiederum der furchtbare Satz überliefert ist, dass Kinderwille Dreckswille sei. Vergangene Zeiten. Niemand würde dies mehr laut fordern. Rohrstockpädagogik, die ihren Ursprung in Preußen hat. Als etwa Viktoria und Friedrich III. ihrem Filius und Prinzen den seit Geburt verkürzten Arm auf der Streckbank hinbiegen wollten. Und ihn nach diesem Prinzip auch mental erziehen ließen.

Trotzdem ist das Schlagen noch da. Nicht mehr als Erziehungskonzept. Aber als ordinäre Gewalt in der Familie: Überfordert, alkoholisiert, ohnmächtig, langen Väter hin – eine lächerliche Karikatur nur mehr der Rolle, die Adorno und Horkheimer in „Autorität und Familie“ dem Oberhaupt zuschrieben. Keine planvolle Exekution des Prinzips „Du hast dich mir unterzuordnen“ also, das als Initiationsritus für allgemein gültige Verkehrsformen der Unterordnung diente. Was aber bleibt: die Ausübung aller Ziele entkleideter Autorität.

Man mag das als Sonderfall abtun. Als schichten- oder situationsspezifische Ausraster. Nur findet solcherlei Strenge statt. Und wird, wenn auch viel softer und auf einer anderen Ebene, als gut und richtig, ja als notwendig empfohlen. Jedenfalls fühlt man sich immer wieder an jene „spartanische Gefühlshärte“ gegen den jungen Kaiser Wilhelm II. erinnert, wenn man die Erziehungsratgeber des 21. Jahrhunderts durchblättert. Tugenden wie Anstand und Pflichterfüllung feiern ein Comeback. Die Bestsellerautorinnen Petra Gerster und Susanne Gaschke geben moderne Erziehungstipps – und gerieren sich bloß als Wiederentdeckerinnen der Sekundärtugenden. Strenge möge wieder oberstes Erziehungsprinzip sein.

Die alltäglichen Rahmenbedingungen beschreiben die ErziehungskünstlerInnen wortreich, manchmal versuchen sie sie sogar als beherrschbar hinzustellen – unter einer Menge Voraussetzungen, die die meisten Menschen freilich niemals erfüllen werden: genug Geld, geteilte Jobs, coole Kollegen, Nachbarn mit Kindern oder Ohropax, auf jeden Fall Zeit, sehr viel Zeit.

Die neu-alte Familienmoral dient nur einem Zweck: das Recht der Eltern, durchzugreifen, als Ausweg aus einer als unhaltbar empfundenen Situation zu preisen. Besser: frecher, ungehöriger Kinder wieder Herr zu werden.

Dabei könnte der Zwist zwischen den Extremen „autoritär“ und „antiautoritär“ längst ad acta gelegt sein. Weder die permissive Variante des Erziehens noch die kontrollierende findet sich heute in Reinform. Zu Recht. Die Ergebnisse solcherlei Kinderversuche sind – nein: können sein – zu schwache oder rücksichtslose Charaktere. Was die Forscher als ideal ermittelt haben, ist ein Zwischending. Selbstständige, gesellige und zufriedene Menschen zu werden, haben Kinder dann eine größere Chance, wenn ihre Eltern sie warm und entschieden und demokratisch erziehen. Man könnte auch sagen: warm und streng, aber schon liefe man Gefahr, dass es wieder auf „streng“ reduziert wird – eine deutsche Unart.

Die Eltern haben die Zwischenform gefunden – ohne Studien gelesen zu haben. Auf halbem Weg zwischen Laisser-faire und Rohrstock siedeln sie „Grenzen setzen“ an. Väter und Mütter nicken eifrig, wenn sie es hören. Was „Grenzen zu setzen“ aber heißt, wird niemand definieren können. Und das ist vielleicht auch gut so. Man weiß halt, was das heißt. Wenn es so weit ist.

Ein Kinderzimmer ist die Zukunft – voll gestopft mit Angeboten und dabei sehr unaufgeräumt, alle Tage Bühne für ein neues Spiel- und Lernprojekt. Erziehung findet nunmehr in einem Niemandsland statt. Sie gehorcht keinen Dogmen mehr. Sie gehört nicht mehr den Achtundsechzigern, den Erziehungsanarchisten, die einst den freien Willen ihrer Kinder über alles stellten. Auch die preußische Pflichterfüllungsmanie ist perdu. Selbst die Autorität von roten Fußgängerampeln soll ja gelitten haben. Die Erziehung also gehört, endlich, uns. Das ist gut – und anstrengend.

CHRISTIAN FÜLLER, Jahrgang 1963, ist ab sofort wieder in Erziehungsurlaub. Diesmal mit seinem elf Monate alten Sohn Lennart