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Archiv-Artikel

Verklebte Trümmerhaufen

Im Kino sind wieder große Erzählungen gefragt. Auch die Berlinale zeigte diesmal mehr Historienschinken als sonst

Jahr für Jahr steigt man bei der Berlinale in den Ring, um sich in Filmen erzählen zu lassen, wie andere mit der Gegenwart klarkommen. Mit jedem möchte man das Jetzt teilen: Mal freundet man sich mit neurotischen Japanern an, die auf der Leinwand am Sein leiden; oder man sieht Franzosen zu, die sich über ihre Bürgerlichkeit ärgern, und im Survival-Camp USA sucht man nach individuellen Lebensbewältigungsstrategien. Das sind bewährte Projektionen, die einem bei der Planung des eigenen Berlinale-Programms helfen.

Dieses Jahr scheint die angenehme Banalität solcher Gegenwärtigkeiten ein wenig zu bröckeln. Plötzlich sind im Kino wieder die großen Erzählungen gefragt: der Sinn für Geschichte. Japan und China sind mit Historiendramen über Samurais und Dynastienkriege im Wettbewerb vertreten, Claude Chabrol bohrt sich tief in die Frage nach den an der Kollaboration Schuldigen. Wolfgang Becker betrachtet 40 Jahre DDR-Geschichte aus der Schlafzimmerperspektive. Und Amerika? Schafft mit Martin Scorseses „Gangs of New York“ zum Abschluss der Berlinale eine Cinemascope-Version über Gewalt und andere Gründungsmythen seiner Metropole.

Die Suche nach Wurzeln, das Bedürfnis, aus der Historie ein paar Verbindlichkeiten zu destillieren, mit denen sich Identität stiften lässt, kommt zu einem Zeitpunkt, da das Vergnügen an der globalen Vielheit merklich schwindet. Offenbar gibt es eine Angst davor, sich zwischen lauter Eigenheiten zu verlieren. Worauf kann man noch vertrauen, wenn alle Welt in Bewegung ist?

Nun erzeugt der Rückgriff auf Geschichte nicht bloß wohlige Nestwärme. Monumentalität ist eine Erinnerung an die Schlachtengemälde der Western und Sandalenfilme der 50er-Jahre. Irgendwie lächerlich. Aber schon beim Erfolg von Weltkrieg-II-Filmen à la „Saving Private Ryan“ war abzusehen, dass offenbar wieder Mehrheiten existieren, die das Schicksal von Einzelnen eher in Ausnahmesituationen ertragen können, weil sich darin der Wille von Staat, Gesellschaft und Nation zeigt, für den eben nicht Leute wie du und ich sterben, sondern echte Helden.

Diese Zuschreibung hat sich in Post-9/11-Zeiten noch verstärkt. Je unschärfer die politische Gemengelage der Gegenwart erscheint, um so größer ist das Bedürfnis nach unverrückbaren Standpunkten, wie sie die Geschichte liefert. Das ist auch in Wolfgang Beckers Parodie „Good Bye, Lenin!“ noch der Fall, wo die wunderlichen Sozialismus-Inszenierungen eine Handreichung sind, um die Unbilden der Wiedervereinigung zu ertragen. Langsam wird die herzkranke Mutter aus ihren Erinnerungen an die DDR in den Wendealltag herübergeholt, verschwimmen Fakten und Wunschbilder der Vergangenheit zu einem Gesamtdeutschland im Hier und Jetzt. Nur die Idee, dass der Westen um Asyl im Osten gebeten hat und die Mauer deshalb fiel, ist eine kleine, aber sehr schöne Rache an der Geschichte.

Natürlich gibt es neben den Fiktionen noch Filmarbeit als Archäologie, für die weiter die Dokumentationen des Forums stehen. Doch auch hier nimmt der Spaß an der Spurensuche ab, weil immer mehr Archive zugänglich werden. Selbst in der VR China kann man en detail die Kulturrevolution rekonstruieren – die blinden Flecken verschwinden. Vielleicht hatte Benjamin Unrecht, vielleicht verklebt sich der Trümmerhaufen am Ende noch zu einer einzigen Katastrophe. Vielleicht würde das Kino aber auch nur gern ein Engel sein, der sich allmählich vom Sturm der Ereignisse aus der Gegenwart entfernt. HARALD FRICKE