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Archiv-Artikel

Das stille Leben der Millionen

Zwischen Babywindeln, Hypotheken und Einmachgläsern verschwindet der Alltag: Gerhard Henschel erzählt in seinem Briefroman „Die Liebenden“ vor dem Hintergrund der alten Bundesrepublik die Geschichte einer mittelständischen Familie

von ANNE KRAUME

In seinen Essays, die der Spanier Miguel de Unamuno unter dem Titel „En torno al casticismo“ veröffentlichte, trifft er eine wichtige Unterscheidung: diejenige zwischen der „historia“, der Geschichte eines Landes, und dem, was er die „intra-historia“ nennt, die innere Geschichte oder die nach innen gewandte. Lange bevor bei uns die Rede von der „Alltagsgeschichte“ modisch wurde, schrieb Unamuno 1895, diese „intra-historia“ umfasse das „stille Leben jener Millionen von Menschen ohne Geschichte“. Neben der offiziellen Geschichtsschreibung gerate die quasi inoffizielle „intra-historia“ leicht in Vergessenheit, obwohl gerade in ihr die großen Linien in der Geschichte eines Volkes aufscheinen könnten.

Der Briefroman „Die Liebenden“ von Gerhard Henschel dokumentiert die Geschichte Deutschlands von den letzten Kriegsjahren bis über die Wende hinaus, indem er die private Lebens- und Liebesgeschichte eines Paares erzählt. Ein wenig überrascht dieser Ansatz bei Gerhard Henschel, der sich bisher vor allem als Satiriker der so genannten Zweiten Frankfurter Schule um Eckhard Henscheid einen Namen gemacht und als solcher in stetem Wechsel Erzählungen, Glossen, Satiren und Kritiken geschrieben hat. Und nun also der Roman eines Paares, der in Briefen dieses Paares und seiner Familie und Freunde über 53 Jahre und 750 Seiten hinweg weit mehr als nur die Geschichte eines Paares erzählt: Es geht um die großen Linien.

Inge, die Fremdsprachenkorrespondentin, und Richard, der Maschinenbaustudent: „Meine liebe Inge! Einen von ganzem Herzen kommenden Gruß und einen Kuß, den Du mit x = n multiplizieren kannst, wobei Du die Größe des n nach Gutdünken wählen darfst. Dein Richard.“ Bis in die Kindheit und Jugend der Protagonisten reichen die Briefe zurück: Wenige Worte umreißen Krieg, Vertreibung und Richards Kriegsgefangenschaft als 18-Jähriger; er und Inge machen später an der gleichen Schule Abitur. Sie geht für ein Jahr als Au-pair-Mädchen nach England. Er studiert an der Fachhochschule in Hannover.

Dort treffen sich die beiden 1950 wieder, dort muss ihre Liebe sich zuerst gegen misstrauische Zimmerwirtinnen, Berge von Arbeit und Mangel an Geld behaupten. Hochzeit wenige Jahre später, das erste Kind, Richards schwere Tuberkulose, bescheidener Aufschwung, nach und nach drei weitere Kinder, das erste eigene Haus, Inges Fernweh, Richards Karriere. Und als das Schwierigste „überstanden“ ist, wie man so sagt, da scheint plötzlich nicht mehr viel übrig von jener Liebe, die dem Roman seinen Namen gibt.

„Ich habe in all den knappen Jahren nichts dagegen gehabt, ‚für später‘ krumm zu liegen und zu schuften, wie Du auch. Aber später ist jetzt, jetzt, jetzt! Nach menschlichem Ermessen haben wir zwei Drittel unseres Lebens hinter uns. Wann kann man endlich anders als in Versorgungskategorien denken?“, schreibt Inge an Richard. Ungestraft hat man nicht teil am Wirtschaftswunder: Der Aufstieg aus bescheidenen Verhältnissen kostet Kraft, neben der Arbeit für den Aufschwung, den eigenen und den des Landes, bleibt wenig Zeit füreinander. Und während Deutschland allmählich auf die Beine kommt, geht im Kleinen die Liebe und vielleicht der Blick für das Wesentliche verloren.

Briefe überbrücken Entfernungen, vermindern Distanzen. Immer wieder sind die Liebenden bei Gerhard Henschel getrennt, von Anfang an sind sie auf das Schreiben angewiesen. Anfangs ist die Distanz räumlich: Richard in Hannover, Inge bei ihrer Familie in der Nähe von Jever; Richard im Sanatorium im Schwarzwald, Inge in Hannover; Inge in Hannover, Richard in Koblenz; Inge mit den Kindern in Koblenz, Richard auf Geschäftsreise in Minneapolis. Diese Briefe schaffen so viel Nähe, dass Richard schon einmal schreiben kann, eigentlich sei die Ortsangabe oben auf seinem Brief falsch, denn wahrheitsgemäß hätte er an diese Stelle statt „Hannover“ schreiben müssen: „bei Dir!“; in einem ihrer Briefe schreibt Inge dann an die gleiche Stelle: „Wo? In Kilometern gerechnet weit fort, doch in Gedanken Dir ganz nah.“

Sehr viel später, als dann alle räumlichen Distanzen überwunden sind und die Familie zusammen im eigenen Haus leben könnte, dienen die Briefe, die auch dann noch geschrieben werden, einem anderen Zweck: Sie stellen eine äußere Distanz her, damit die innere Distanz, deren man plötzlich gewahr wird, leichter zu ertragen ist: „Du kannst offensichtlich lange Zeit ohne meine Fürsorge auskommen, aber ich kann mit so wenig Kontakt und so viel Kritik eben nicht so leicht fertig werden“, schreibt Inge.

Hier nun bekommt die Beziehung der privaten Geschichte dieser zwei Menschen zu der politischen Geschichte ihres Landes eine eigenartige Wendung: Die Teilung und später die Wiedervereinigung Deutschlands finden, ohne dass explizit darauf hingewiesen wird, ihre umgekehrte Entsprechung in der Geschichte Inges und Richards: Man lebt sich auseinander.

Gerhard Henschel hat sich seine Briefe nicht ausgedacht. Das Material ist authentisch, es handelt sich um die Korrespondenz einer wirklich existierenden Familie. Henschels Eingriffe sind geringfügig – er hat die Briefe nur gekürzt, um die Geschichte klarer herauszuarbeiten, auf die es ihm ankommt.

Dies ist wohl auch der wichtigste Unterschied zwischen Henschel und Walter Kempowski, dem anderen großen Erzähler der deutschen „intra-historia“ bzw. Alltagsgeschichte: Wo Kempowski mit seinem „Echolot“-Projekt ein breites Panorama von Briefen und Tagebüchern der unterschiedlichsten Menschen schafft und seine Arbeit als wissenschaftliche Quellenedition von vor allem dokumentarischem Charakter versteht, da agiert Henschel mit der Geschichte seiner Liebenden eher als Erzähler, dem es vor allem um den Fortgang seiner Geschichte zu tun ist. Indem er sich auf eine einzige Familie beschränkt und den Leser deren Sorgen und Freuden direkt miterleben lässt, macht er deutlich, dass sein Anliegen nicht so sehr die Vollständigkeit der Geschichte als vielmehr die Verdichtung einer Geschichte ist.

Die Form des Briefromans lässt einen Anschein von Intimität aufkommen: Wir sind dabei, all das, wovon diese Menschen in ihren Briefen schreiben, geht auch uns etwas an. Von Brief zu Brief verschiebt sich die Perspektive: Mal berichtet Inge, mal ihre Mutter, mal Richard, mal seine Schwester. Das Problem, das Richard einmal in einem Brief an seine Tochter anspricht, nämlich dass sie die Geschichte ihrer Eltern ausschließlich aus den Erzählungen ihrer Mutter und somit auch aus deren Perspektive kenne, wird auf diese Weise vermieden: Anders als der vielleicht berühmteste deutsche Briefroman, Goethes „Leiden des jungen Werthers“, erzählt derjenige von Gerhard Henschel eben nicht nur aus einer einzigen Perspektive, sondern beleuchtet die Dinge aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln.

Gegen Ende wird das Tempo immer rasanter. Es ist, als wollten die späten Briefe von Richard und Inge das Gefühl der älter werdenden Leute abbilden, die Zeit vergehe mit zunehmendem Alter schneller und schneller. Die Verfinsterung, die schleichend im Leben der beiden einsetzt, entwickelt so eine Eigendynamik, eine Art Strudel oder Sog mit einer ungeheuren Anziehungskraft. Die Zeit schnurrt zusammen, wenn zwischen Babywindeln und Einmachgläsern, Hypotheken und Komposthaufen der Alltag lauert. Die Schriftstellerträume der überlasteten und doch unausgelasteten Hausfrau und Mutter Inge sind der verzweifelte Versuch, diesem Alltag etwas entgegenzustemmen und die verstreichende Zeit zu bremsen: Regelmäßig schickt sie ihre Texte an Verlage, regelmäßig enttäuscht man ihre Hoffnungen mit einem freundlichen Absagebrief. An ihrem 60. Geburtstag, kurz vor ihrem Tod, fragt sie in einem ihrer plattdeutschen Gedichte leise: „De ganze leeve Tiet, wo is se bleven?“

Die erzählerische Dynamik, in deren Bann man als Leser im Laufe der Lektüre allmählich gerät, legt ähnliche Fragen nahe. Der Stil des Romans, das liegt in der Natur der Sache, ist unterschiedlich – je nachdem, wer gerade zu Wort kommt. Inges Vater liebt in seinen Soldatenbriefen die Abkürzungen, die förmlich die Papierknappheit der Kriegsjahre spüren lassen: „Dir, m. l. E., und meinen lb. Deerns herzl. Grüße u. Küsse“.

Bei Richard fühlt man im Laufe der Jahre mehr und mehr die drohende Depression heraus; Inge schreibt heiter und ruhig. Wenn diese vielfältigen Wechsel im Stil und in der Tonlage den Roman zunächst ein wenig sperrig und widerständig erscheinen lassen, wenn der Zugang erschwert wird durch die zahlreichen Briefsteller und Adressaten, dann sind es doch im Laufe der Zeit gerade diese unterschiedlichen Stimmen, die die Geschichte von Richard und Inge so plausibel und repräsentativ erscheinen lassen: Ganz beiläufig entwirft „Die Liebenden“ ein Bild, das ahnen lässt, dass solche mittelständischen Familien der Stoff sind, aus dem die Bundesrepublik entstanden ist.

Gerhard Henschel: „Die Liebenden“. Hoffmann und Campe, Hamburg 2002, 752 Seiten, 25,90 €