: Voll Proll oder was?
Arbeiter oder potenzieller Revolutionär? Ob als Trendsetter oder als Sexsymbol – der Prolet lässt uns nicht kalt. Schon immer hat er die Angst und die Fantasien der Oberschichten geschürt. Jetzt sieht man ihn tagtäglich im Fernsehen. Was fasziniert am Proleten, was bewegt? Vier Antworten
Proletarier im Wandel der Jahreszeiten
Vorbei die Zeiten, in denen die Arbeiterklasse mit stolzgeschwellter Brust auf die Straße ging. Singend, Parolen rufend, im Herzen die großen Theoretiker
Die historische Mission der Arbeiterklasse war die Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Deren Vertreter, Proletarier, Proleten, stehen für Armut, schwerste körperliche Arbeit, Solidarität und die revolutionären Arbeiterkämpfe: 1848 und 1870 in Paris, 1905 und 1917 in Russland und 1918 bis 1923 in Deutschland. Sie sind die industrielle Armee von gestern und Helden der Geschichte. Sie forderten Grundrechte, auf denen unsere demokratischen Gesellschaftssysteme basieren. Wir bedanken und verneigen uns dafür. Mit dem zeitgenössischen Proll, wie er heute abfällig genannt wird, will lieber niemand zu tun haben. Eher scheint er ein Opfer und nicht aktiver Teilnehmer der Geschichte zu sein.
Denn er arbeitet nicht und ist trotzdem nicht ärmer als ein Taxifahrer oder Streifenpolizist. Das Geld wird lieber zum Media Markt getragen als in die Förderung der Kinder investiert. Dabei stammt das Wort „Proll“ tatsächlich von „Kind“ (lateinisch proles = Nachkommen) und bezeichnete in der Antike jene besitzlose Bevölkerungsgruppe, die nichts als ihre Kinder hinterließ. Das mag man in Hinblick auf die unumstößlichen Regeln des antiken Staates noch entschuldigen. In Abgrenzung von Fastfood und Unterschichtenfernsehen hingegen kann man sich als intellektueller Monopol-Abonnement herrlich selbst konstruieren. Und doch umrankt den Proll eine Aura des Stylers, der den Underground kennt und sich eben nicht mit Freud oder ayurvedischen Diäten herumschlagen muss. „Prollig“ ist zu einem Adjektiv verkommen, das beschreibt, was ein wenig selbstgefällig, derb, vulgär oder gar kulturlos ist. Denn eine homogene Masse, als welche die Proletarier zu Marx’ Zeit wahrgenommen wurden, existiert nicht mehr. Entsprechende Solidarität ebenso wenig.
Die Deindustrialisierung führt zu Arbeitslosigkeit und dem frustrierenden Gefühl der Nutzlosigkeit. Es gibt genug zu essen, ein Dach über dem Kopf, und auch die medizinische Versorgung garantiert der Wohlfahrtsstaat. Dafür kommen geistige Anregungen zu kurz. Prolls sind heutzutage in allen Lebensbereichen zu Hause. Würstchenbuden und Nagelstudios sind schon lange zu eng geworden. Ihre Diversität erteilt dem Klischee eine klare Absage. Nicht einmal die Frage „Mit oder ohne Migrationshintergrund?“ lässt eine Eingrenzung zu, sondern allenfalls eine Art Spezialisierung. NMG
Der edle Wilde
Schon immer hat er braven Bürgern in ihren Fantasien als Objekt der Begierde gedient. Der Prolet verkörpert das Prinzip Hoffnung
Benoîte Groult war eine Schriftstellerin, die einen Roman schrieb, der sie wohlhabend machte: „Salz auf unserer Haut“. Literarisch war diese Geschichte, sagen Kritiker, extrem schlecht. Das Buch wurde trotzdem gekauft. Die Geschichte geht so: Frau aus bürgerlichen Kreisen trifft in der Bretagne einen Schrank von einem Mann, groß, breit, haarig auf der Brust, Hände wie Pranken. Und das Ding zwischen seinen Beinen wird auch als absolut hinreißend geschildert.
Dieses Bestsellerbeispiel aus den mittleren Achtzigern ließe sich um weitere ergänzen; das sexuelle Empfinden gibt fast immer den Männern (und Frauen) einen Bonus, die aus proletarischen Verhältnissen stammen. Die machen nicht so viel Gewese ums Reden, die sprechen auch, aber wissen auch um ihre körperliche Sprache. Sie haben Schwänze und Titten, Ärsche und Haare, in Achseln, am Unterleib, vorne und hinten, sie gehen dem sexuellen Begehren mit Wonne nach – und ihr Stöhnen ist, so geht die Fantasie, von gurgelnden oder röhrenden, hechelnden, jedenfalls schweinischen Geräuschen begleitet.
Und doch gibt es keinen Hinweis darauf, dass der Prolet gut fickt. Unsicher ist ja schon, ob er dumm ist, aber die sogenannte Volksweisheit will ja, dass der Satz stimmt: Dumm fickt gut.
Hinter all diesen Fantasien steckt das archaische Bild vom edlen Wilden; ungezähmt, aber von frommer, gottesfürchtiger, jedenfalls extrem hingabefähiger Art. Mit den edlen Wilden werden Tee und Sherry nippende Dämchen zur Hochform gebracht; oder Herren, die an ihren Lolitas wachsen oder sich an ihnen verbrennen.
Wahr ist aber, dass alles Sexuelle besser klappt, wenn Schuldgefühlsfabriken christlicher Provenienz wenig bis gar nicht beteiligt sind. Der Prolet, der in unseren Landen so eine Schimpfwortfigur abgibt, verkörpert in diesem Sinne das Prinzip Hoffnung des angeödeten Bürgers, der jenseits von distinktivem Dünkel mal in Schweiß und anderen Sekreten baden will.
Und seien wir doch ehrlich: Ein Proll mit Gefühl (phantasmatisch: Woody Harrelson, Melanie Griffith; nicht Sigourney Weaver oder Hugh Grant) ist eine Köstlichkeit. Männlich oder weiblich – triebgesteuert auch sie, ohne die Lust aufs Begehren leugnen zu können. Das gefällt immer, und das lässt die Verachtung für sie wachsen. JAF
Rock ’n’ Proll
Proletarier aller Länder, vereinigt euch – den Medien ist dieser Leitspruch geglückt, dort sind die Prolls eine vereinigte Front. Ein Stereotyp im Fokus
Wie ein Abziehbild seiner selbst kann der fernsehende Proll der eigenen Schablone im Fernsehen zuschauen. Talkshows und Reality-Soaps zoomen die Lieblingsminderheit heran, indem sie stereotype Prolls casten. Wohl vorwiegend für seinesgleichen, was RTL II und Co. den Vorwurf des Unterschichtenfernsehens einbrachte, aber auch als Guckkasten für die anderen – wer auch immer diese sind. Das ist dann, wenn „prollig“ in die Nähe von „drollig“ rückt. Wenn der Student aus feinem Haus und die Dame der guten Gesellschaft beim Zappen über derbe Prollwitze in Dialekt lachen und sich an unkultivierten „Big Brother“-Bewohnern ergötzen.
Dem pauschalisierten Proll wird kein Stilbewusstsein attestiert, obwohl Stilbewusste gerne auf einzelne Proll-Attribute zurückgreifen. Die medialisierte Schablone erschließt ein Spielfeld für Avantgardisten, die sich gerne eklektisch an Spezifika einer bestimmten Gruppe bedienen. Nach farbigen Gadjo-Dilo-Röcken, holzigem Ethnoschmuck und ostalgischen Möbeln werden nun muskelbepackte Angeber mit Auto und Mandy an ihrer Seite ob ihrer vermeintlich einfachen Denkweise beneidet, so wie Gauguin versuchte, es den Tahitianern gleichzutun. Der Reiz des Archaischen? Eine besondere Erotik? Auch der Besserverdienende möchte etwas davon abhaben. Längst hat auch er die Muckibuden erobert, lässt sich tätowieren und sich Vokuhilas frisieren. Was Attribute der sogenannten Unterschicht waren, hält der stilbewusste Anwalt mittlerweile für modern. Modestrecken in Hochglanzmagazinen promoten Overalls und grobe Boots in der Men-at-Work-Ästhetik als letzten Schrei. Sogar Boxkämpfe sind heutzutage A-Prominenz-Ereignisse. Den Bottom-up-Effekt nennen das Soziologen. Im 18. Jahrhundert war die Dynamik noch umgekehrt. Das Proletariat übernahm die Trends derer, die oben in der Gesellschaftspyramide standen.
Modebewusste würden die entlehnten Attribute als sophisticated bezeichnen. Längst dienen sie nicht mehr als Ausrüstung für Ausflüge in die Docks und auf die Baustellen dieser Welt, sondern stehen für ironische Referenz, aber auch authentische Bodenhaftigkeit. Der zeitgenössische Proll repräsentiert damit ein unerreichbares Gegenkonzept der sich besser Dünkenden: ungefiltert real, schert er sich keinen Deut um den Schein, in den sich der eine oder andere hüllt. NMG, GL
Klassenkampf
Massenkultur gleich Volksverdummung? Was die Hochkultur gern vergisst: Der liberale Pluralismus entwickelte sich aus der Kultur der Unterschicht
Die Masse, das sind die Leute der Unterschicht, die im „Teleshopping“ ihre Schnäppchen jagen und im „Big Brother“ das eigene Privatleben aufgeben und sich mit den Hausbewohnern so lange zoffen und poppen, bis ein Sieger die Million kassiert. Die Medien buhlen um den Voyeurismus der Masse und inszenieren eine Kultur der Unterschicht, die alltägliche Gefühle, Zerwürfnisse und Triebe offenlegt.
Der Körper ist zentraler Ausdrucksort des Einzelnen. Im individuellen Leistungskampf wird die Fremdkontrolle der gesellschaftlichen Realität mit Selbstkontrolle kompensiert. Im Fitnesscenter wird das Gewebe straffer, im Solarium brauner, beim Plastikchirurgen schöner. Im individuellen Heim offenbaren das Plüschtierregal und gerahmte Fotos von Geburtstagen und Hochzeiten persönliche Sentimentalitäten. Der Körper und die Dingwelt sind Fetischwaren, die nicht nur der Erinnerung, sondern auch der Ergötzung des eigenen Ichs dienen.
Doch geht es der Oberschicht anders? Auch sie jagt ihre Schnäppchen in Fabrikverkäufen nobler Modedesigner und fährt mit ihrem Flitzer vor Discountsupermärkte. Ihr Geschmack mag stilvoller sein, das Interieur und der eigene Körper mögen repräsentativer sein, doch ist die Distinktion meist nur ein Mittel, ihrem Statusanspruch gerecht zu werden.
Die Massenkultur wird hingegen mit gesellschaftlicher und ästhetischer Armut verknüpft, ihr wird eine Verrohung und Verdummung vorausgesagt, in der die Menschen Ablenkung vom Alltag suchen. Die Zuschreibung der Hochkultur über die Massenkultur war immer Mittel eines symbolischen Kampfes. Die Massenkultur wurde von jeher stigmatisiert, verpönt, kontrolliert und teils verboten. Auch Modetrends und neue Lebensstile riefen vor Jahrzehnten Empörung in der Gesellschaft hervor.
Was die vermeintliche Hochkultur dabei noch heute vergisst: Der liberale Pluralismus entwickelte sich aus der Kultur der Unterschicht. Die Unsitte von damals ist die Freiheit des selbstbestimmten Lebens von heute. Sie ist frei von den Normzwängen der Etikette der Hochkultur. Dass die Jeanshose – einst eine Goldgräberhose – heute salonfähig geworden ist, liegt an dem unkonventionellen Stilempfinden der jungen Frauen und Männer der Fünfzigerjahre. Damals noch belächelt, liegt sie heute bei jedem im Schrank. JK
Der Fotograf
Unser Fotograf Detlev Schilke hat das Spannungsfeld des tatsächlichen und konstruierten Prolls für uns mit der Kamera recherchiert. Mit Liebe zum Detail, das manchmal mehr verrät, als die Oberfläche vermuten lässt, ging er auf die Pirsch. Bei der Arbeit fühlte er sich manchmal an Elliott Erwitt erinnert, der im New York der 1940er-Jahre „hintergründig-verschmitzte Sujets“ in Schwarz-Weiß festhielt. Als er in Berlin unterwegs war, war Detlev Schilke vor allem beeindruckt von der Offenheit der Menschen, geschockt war er von den Ausmaßen der fehlenden Freizeitbeschäftigungen für Jugendliche, die ihren Fokus immer mehr auf Konsum ausrichten. Er wünscht sich mehr Jugendclubs und dass die Familien mal wieder Selbstgekochtes in trauter Runde am abendlichen Esstisch verspeisen. Wenn Schilke nicht gerade Straßenszenen festhält, fotografiert er auch Clowns in Heiligendamm, tagesaktuelle Ereignisse jeder Art oder schafft es, Jazzmusik mit der Kamera einzufangen. NMG