Zwischen Troja und Massada

Virtuose Übungen in der Ästhetik des Schreckens, aber im Dickicht der Mythen verirrt: Hans-Werner Kroesingers „Primetime. Suicide Bombers on Air“ in den Sophiensaelen

Ob sie denn bereit sei, auch Bauch und Schultern zu zeigen, fragt ein Mann die junge Frau im hoch geschlossenen, langen, schwarzen Kleid. Denn um erfolgreich zu sein, müsse sie bei der Aktion das Aussehen des Feindes annehmen. Die junge Frau schließt entsetzt die Augen. Nach kurzem Zögern willigt sie ein. Am Ende kommt sogar Freude auf: „Danach bin ich berühmter als Madonna!“ Doch die junge Frau wird ihren Ruhm als palästinensische Selbstmordattentäterin mit dem Leben bezahlen.

Später treffen wir die Schauspieler in anderen Rollen wieder. Tjadke Biallowons spielt die fanatische Schwester eines Selbstmordattentäters, Uwe Schmieder einen Vater, der seinen Sohn auf gleichem Weg verlor und nun verbittert fragt: „Wenn der Tod das einzige Mittel ist, das unsere Freiheit wieder herstellen kann, warum sehen wir die Söhne unserer Führer und Scheikhs in Frankreich, England und den USA studieren und nicht hier?“ Schauplatz ist nun ein palästinensisches Radiostudio, wo über Nutzen und Schaden von Selbstmordanschlägen für den Befreiungskampf diskutiert wird. Der Moderator (Armin Dallapiccola) ist besorgt, zu radikale Ansichten werden seinen Sender die Lizenz kosten, eine palästinensische Professorin (Judica Albrecht) laviert höchst sibyllinisch zwischen Verurteilung und Verherrlichung der Anschläge, die junge Schwester eines Attentäters will auch sich selber opfern, und nur der verzweifelte Vater eines toten Sohns hat massive Zweifel am destruktiven Konzept.

Nach zwei Szenen scheint das Terrain von Hans-Werner Kroesingers Abend „Primetime. Suicide Bombers on Air“ abgesteckt und man ist gespannt, wie es weitergeht. Doch der Abend ist an diesem Punkt inhaltlich leider schon am Ende. Kroesinger will zu viel, er will die blutige Geschichte des Nahen Ostens von Anfang an erzählen. So findet er den Geist der Selbstmordattentäter schon in Massada, jener sagenumwobenen Festung am Toten Meer, wohin sich im ersten Jahrhundert nach Christus eine Gruppe jüdischer Rebellen mit ihren Familien vor den Römern zurückgezogen haben soll, die sich dort lieber kollektiv umbrachte, als den Römern in die Hände zu fallen. Zwischen Vitrinen mit antiken Waffenresten marschieren später die vier Schauspieler mit Fluggepäck und rezitieren aus den spirituellen Anleitungen für die Selbstmordanschläge vom 11. September. Zwischendurch steigt Uwe Schmieder als antiker jüdischer Rebellenführer Eleazar Ben Yair auf eine Vitrine mit Sand und ruft zum kollektiven Selbstmord auf: Text, den ihm der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus in den Mund legte und von dem man nicht weiß, ob es damit nicht ähnlich wie mit Homers Bericht von Untergang Trojas verhält.

Aber Kroesinger verwendet die Texte wie dokumentarisches Material, und so wirken die echten Texte dann wie Fiktionen: die in Mohammed Attas Hinterlassenschaft gefundenen spirituellen Anleitungen für Selbstmordattentäter wie unveröffentlichte Texte aus Brechts „Die Maßnahme“ anzuhören oder auch Jean Genets schockierenden Bericht seines Besuchs im libanesischen Flüchtlingslager Schatila am Tag nach den Massakern im September 1982 klingt wie eine virtuose Übung in der Ästhetik des Schreckens. Zur Wahrheitsfindung trägt dies alles wenig bei. Vielmehr verirrt sich der Abend in zweitausendjährigen Mythen, die schon die Gehirne im Nahe Osten vernebeln.

ESTHER SLEVOGT

Nächste Vorstellungen: 19.–23. 2., 20 Uhr, Sophienstr. 18, Mitte