jenni zylka über Sex & Lügen
: Kopflos im Trödelladen

Die gescheiterte Liebe einer lockenköpfigen Frau, ausgebreitet auf dem Kopfkissen

Ein paar Meter von meiner Wohnung entfernt ist ein verfluchter Laden. Vor ein paar Jahren residierte dort ein Fischgeschäft, das man schon außerhalb der Stadt riechen konnte, bevor jemand draufging, musste es glücklicherweise wieder schließen. Dann renovierten dort junge, hoffnungsfrohe Schleierträgerinnen und versuchten einige Wochen lang erfolglos, spitzengeklöppelte Bettwäsche zu verkaufen. Danach wurden die Scheiben geschwärzt, und ein todschickes, für meine Begriffe herrlich halbweltiges Wettbüro machte auf, ehe ich jedoch auch nur auf eine einzige Schindmähre setzen konnte, war es wieder passé.

Neulich ist ein Wohnungsauflösungsladen, auch Trödel genannt, eingezogen. Der Betreiber scheint sich vor dem Fluch zu fürchten und öffnet vorsichtshalber – damit ihm auch kein Kunde entgeht – bis spät in die Nacht, und wenn einem um 22 Uhr, auf dem Weg zu einem Fest, einfällt, dass es sich um eine Geburtstagsparty handelt, kann man dort noch schnell ein paar „Fit mit Musik“-Schallplatten aus den 60ern kaufen oder ungeöffnetes türkisches Haarwasser oder das Schneider-Kinderbuch „Ute, du bist unmöglich!“ (gesetzt den Fall, man ist bei einer Ute eingeladen).

Um das Trödelwühlen interessant zu machen, wette ich oft mit mir selbst um die in Trödelläden ausliegenden gebrauchten Bücher. Wetten, sage ich mir zum Beispiel, wenn ich den Laden von außen inspiziere, dass hier „Und Jimmy ging zum Regenbogen“ zu kriegen ist? Einmal habe ich mit „Hotel“ von Arthur Hailey sehr viel Geld von mir gewonnen. Und bei „Ehepaare“ von John Updike schaffe ich es sogar meistens, auf die richtige Kiste zu tippen, in der es, zerfleddert und angestaubt, auf einen neuen Besitzer wartet.

Vor einer Woche fiel mir, als ich das „Ehepaare“-Exemplar in meinem Trödelladen tröstend in die Hand nahm, ein Foto aus dem Buch entgegen. Es stammte aus den späten 70ern, in den nachgegrünten, milchigen Fotofarben dieser Zeit, quadratisch und ein bisschen angegammelt. Vom Bild herunter lächelte mich eine junge, dunkel gelockte Frau an, um die zwanzig, den Arm vergnügt um eine andere Person in dunkelblauer Hose mit Holzlatschen gelegt. Diese Person konnte ich leider nicht erkennen, denn ihr Kopf war abgerissen. Also nicht in Wirklichkeit, sondern der Teil des Fotos, auf dem der Kopf ursprünglich mal abgebildet war, fehlte, nach alter Trennungsschmerz-Tradition. Normalerweise lege ich solche Fotos wieder hin, damit der Trödelladenbesitzer nicht mit albernen Ideen wie „kostet 5 Euro“ angetigert kommt. Aber irgendwie mochte ich die lächelnde Lockenfrau mit dem kopflosen Mann. Und so steckte ich das Foto in die Tasche meines aus ungeborenem Kuschelbärjungenpelz geknüpften Wintermantels und vergaß es.

Bis gestern. Da bummelte ich durch einen anderen Trödelladen, fand mich in der Buchecke wieder, konnte nicht widerstehen und tippte auf die Kiste, in der ich das Exemplar von „Ehepaare“ vermutete. Aber darin lag kein Updike, auch kein „Hotel“, kein Simmel, nicht mal der Kensey-Report. Sondern ein Stapel Fotoalben. Ich blätterte das erste durch, schwarzweiße Kinderfotos, steife Nachkriegseltern, wache, kurz geschorene Jungen. Und im zweiten Album fand ich sie: Die dunkel gelockte Frau von meinem „Ehepaare“-Foto! Sie turnte auf den grünlichen Bildern herum, grinste in die Kamera, telefonierte, räumte eine Umzugskiste aus. Auf einem Bild, das fast genauso aussah wie meins, erkannte ich ihren kopflosen Mann: Ein hübscher Blonder mit einem leicht besorgten Gesichtsausdruck. Er trug die dunkelblaue Hose und die Holzlatschen von meinem Foto. Ich war ganz berührt. Sollte ich das Album klauen? Oder kaufen? Ich guckte nach Bildunterschriften, aber die Frau und der Kopflose schienen nicht besonders zuverlässig zu archivieren. Schließlich handelte ich mit dem Verkäufer einen Preis aus (drei Euro) und nahm das Album mit nach Hause.

Jetzt liegt das Leben der Lockenfrau und des Kopflosen vor mir ausgebreitet, ihr Leben, bevor sie sich trennten und sie das „Ehepaare“-Exemplar behalten durfte, er dagegen die Fotos. Die beiden schienen vorher so glücklich! Auf einem Bild sitzt sie verschlafen und ausgeruht auf dem sonnigen Sofa, dann gibt es eins, auf dem er und sie (mit Selbstauslöser) vor einem winzigen lamettabehängten Weihnachtsbaum hocken. Was wohl zwischen den beiden vorgefallen ist? Auf den Bildern kann ich nichts erkennen, und er wirkt überhaupt nicht so, als ob man ihm aus Eifersucht den Kopf abreißen möchte. Seit gestern denke ich über die beiden nach und male mir ihren Streit, Partnertausch und Trennungsgespräche aus. Ich werde darum heute zu Hause bleiben, vielleicht ein Buch lesen, um auf andere, nicht so traurige Gedanken zu kommen. Ganz bestimmt nicht „Ehepaare“.

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