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Archiv-Artikel

Späte Rehabilitation

Neues Gesetz hebt Urteile gegen Schweizer Fluchthelfer der Nazizeit auf. Kein Anspruch auf Schadenersatz

GENF taz ■ Jakob Spirig aus dem Schweizer Grenzort Diepoldsau im Kanton Sankt Gallen wurde 1942 von der eidgenössischen Polizei verhaftet. Das Vergehen des damals 23-Jährigen: Mit Freunden hatte Spirig jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland beim Grenzübertritt in die Schweiz geholfen. Viele tausend Juden aus Deutschland und Österreich wurden während des Dritten Reichs von Schweizer Fluchthelfern vor der Ermordung in nationalsozialistischen Konzentrationslagern gerettet. Nach Ansicht von Regierung und Parlament der Schweiz war derartige Fluchthilfe ein illegaler Akt, ein Verstoß gegen die Staatsräson. Man wollte Konflikte mit Nazideutschland vermeiden.

„Das Boot ist voll“ lautete die offizielle Begründung für die Rückweisung von Flüchtlingen. Jakob Spirig wurde von einem Schweizer Militärgericht wegen „illegaler Fluchthilfe“ zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, die er ganz absaß.

Fast 60 Jahre später werden Spirig und die anderen Fluchthelfer endlich offiziell und uneingeschränkt rehabilitiert. Gestern trat ein Gesetz in Kraft, mit dem alle Strafurteile gegen Personen aufgehoben werden, die von der Nazidiktatur in Deutschland verfolgten Menschen zur Flucht in die Schweiz verholfen oder Flüchtlinge beherbergt haben, ohne sie den Behörden gemeldet zu haben.

Das Gesetz geht zurück auf eine parlamentarische Initiative des sozialdemokratischen Nationalratsabgeordneten Paul Rechsteiner aus Sankt Gallen sowie auf Lobbyarbeit von Menschenrechtsorganisationen. Allerdings: Einen Anspruch auf Wiedergutmachung oder Schadensersatz für die Verurteilten oder ihre Angehörigen sieht das Gesetz nicht vor. Entsprechende Anträge der grünen und der sozialdemokratischen Fraktion im Nationalrat lehnte die Mehrheit der bürgerlichen Parteien ab. Ebenso abgelehnt wurde die Forderung, neben den Flüchtlingshelfern die Schweizer zu rehabilitieren, die in den 30er-Jahren im spanischen Bürgerkrieg und in der französischen Résistance gegen Nationalsozialismus und Faschismus gekämpft haben.

Jakob Spirig erlebt seine eigene Rehabilitierung nicht mehr. Als Nationalrat Rechsteiner seine Gesetzesinitiative im Dezember 2000 einbrachte, lebte der 81-jährige Spirig noch immer in Diepoldsau. Inzwischen ist er gestorben wie fast alle anderen Schweizer Fluchthelfer aus der Nazizeit. ANDREAS ZUMACH