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Archiv-Artikel

Das Spiel vom Serienkiller

Strategien der Unglücksvermeidung: Das Festival Steirischer Herbst in Graz setzt auf Formen zwischen Diskurs und Theater. Und ausgerechnet Puppen verhandeln die schwärzesten Geschichten

„Jerk“ von Gisèle Vienne ist so eine Arbeit, die dem Zuschauer ihre eigenen Kriterien fast körperlich aufdrückt

VON ASTRID HACKEL

Österreich scheint gegenwärtig von einem Thema beherrscht: dem Unfalltod eines Rechtspopulisten, der im Nachhinein zum begabtesten Politiker des Landes stilisiert wird. Schon jetzt bilden sich um ihn zahlreiche Legenden, die an die Verklärung Lady Dis erinnern.

In Graz, der zweitgrößten Stadt nach Wien, ticken die Uhren zum Glück etwas anders. Hier findet einmal im Jahr der Steirische Herbst statt, ein Festival für Neue Kunst, das nicht nur hinsichtlich der ästhetischen Radikalität und Vielfalt, sondern auch in politischen Fragestellungen nah am Puls der Zeit ist. Noch bis Sonntag präsentieren internationale Künstler ihre Arbeiten, die oft nicht mehr eindeutig zuzuordnen, sondern irgendwo zwischen Medien-, bildender und Performancekunst, Tanz, Theater, Musik und Theorie angesiedelt sind. Diese Herangehensweise entspricht der Tendenz, sich über die Grenzen des eigenen Mediums hinweg mit anderen Künsten, Formaten und Diskursen auseinanderzusetzen.

Es ist kein Zufall, dass bei der komplex zusammengesetzten Zagreber Gruppe BADco. Schauspieler, Dramaturgen, Philosophen und Tänzer gleichberechtigt auf der Bühne stehen. Ihre unterschiedlichen Begabungen und Ausbildungen sieht man ihnen an. Aber „1 poor and one 0“ ist eben weniger Schauspiel als multimediale Live-Theorie, ein gespielter und gesampelter Essay, der sich vom ersten Film „Arbeiter verlassen die Lumière-Werke“ aus mit den Folgen der Arbeit für das Subjekt und für die Geschichte des zeitgenössischen Tanzes beschäftigt.

Dass es kein „reines“ Kunstwerk gibt, darauf weisen augenzwinkernd auch die Stempel im Programmheft hin, die jede Veranstaltung in ihre medialen Bestandteile zerlegen. Wie im Supermarkt erfährt der Zuschauer genau, woraus das Produkt besteht, auf das er sich einlässt. Bei der „Pop-Arche“, mit der Noah Fischer eine zuckersüße Hippie-Vision einer Zeit nach der globalen Erwärmung entwirft, liest sich das dann so: 95 Prozent Installation und 5 Prozent Welt retten.

Welt retten – das lässt sich auch besser formulieren. Mit „Strategien zur Unglücksvermeidung“ haben Veronica Kaup-Hasler und Florian Malzacher für den diesjährigen Herbst ein Thema gewählt, das sich auf den ersten Blick als etwas verquer, bei genauerem Hinsehen jedoch als recht raffiniert erweist. Es geht dabei weniger um den seelischen Zustand des Unglücklichseins als um die politische Instrumentalisierung von „Unglücken“, also Krisen und Katastrophen, die scheinbar plötzlich über die Welt und den Einzelnen hereinbrechen. Beispiele aus jüngerer Zeit sind Terroranschläge und der Zusammenbruch des globalen Finanzsystems.

Florian Malzacher weist vor allem auf die politische Dimension hin; diese „Unglücke“ sind für ihn Instrumente, mit denen Menschen handlungsunfähig gemacht und demokratische Diskussionen abgewürgt werden, indem ein Gefühl von Ohnmacht erzeugt wird. Zum Überwinden dieser (Selbst-)Lähmung will das Festival mit Diskussionen und Diskursen beitragen und das Nachdenken über Handlungsmöglichkeiten. „Strategien zur Unglücksvermeidung“ können demnach sowohl künstlerischer als auch politischer, privater, individueller oder kollektiver Art sein. Und wie bei solchen Formeln üblich, lassen sich nicht alle Produktionen unter einem gemeinsamen Titel subsumieren.

Im zeitgenössischen Freien Theater generiere jede Produktion ihre eigenen Kriterien, sagt Malzacher, und es komme darauf an, diese Kriterien erst einmal zu erkennen, bevor man etwas gut oder schlecht findet. Die Soloperformance „Jerk“ der französischen Künstlerin Gisèle Vienne ist so eine Arbeit, die dem Zuschauer ihre eigenen Kriterien fast körperlich aufdrückt und ihn zwingt, sich an seine Grenzen zu begeben. Basierend auf einem Roman des umstrittenen White-Trash-Autors Dennis Cooper ist „Jerk“ eine extrem streitbare und verstörende Performance, die sich über das Ende der Vorstellung hinaus fortsetzt. Denn sie erzeugt Widerspruch und stellt Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt.

Der Puppenspieler Jonathan Capdevielle spielt David Brooks, der als Teenager einem Serienkiller bei der Tötung zahlreicher Jungs zur Hand ging. Er spielt ihn? Nein, er ist dieser Brooks, zumindest behauptet „Jerk“ das und lässt nicht den geringsten Zweifel daran. Als blutige Folterorgien voller Schmerz, Lust und Gewalt muss man sich diese Morde vorstellen, von denen Capdevielle seine Handpuppen erzählen lässt. Dabei schwitzt und heult, stöhnt und schmatzt er, dass einem schlecht wird.

Was eigentlich nicht darstellbar ist, erlangt über den „Umweg“ des Puppenspiels eine Präsenz, der man sich als Zuschauer nicht entziehen kann. Verstärkt wird diese Eindringlichkeit durch die Sympathie, mit der man diesem smart und verschmitzt lächelnden Capdevielle am Anfang begegnet und worauf Vienne es bewusst angelegt hat. Bei ihr gibt es nicht die leiseste Andeutung einer Außensicht, geschweige denn eine Moral, nur die nackte Behauptung einer Realität, mit der wir lieber nicht konfrontiert werden wollen. Dass „Jerk“ nicht erst beim Steirischen Herbst positive Reaktionen hervorrief, mag überraschen. Es liegt ganz gewiss auch an der Leistung Capdevielles. Denn das, was er vollbringt, haben wir in dieser Form noch nie gesehen. Und das ist großartig.