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Archiv-Artikel

Hinter Schloss und Schere

Seit Jahren nähen Häftlinge der JVA Tegel Schuhe und Klamotten. Ein Werber hat die Knastmode kurzerhand zur hippen Szenemarke erklärt und den Vertrieb per Internet organisiert. Mit Erfolg

VON GUNNAR LEUE

Unternehmerische Erfolgsstorys aus Berlin sind Mangelware. Die Jubelmeldungen der letzten Zeiten haben fast ausschließlich die mit viel Geld geförderten Umzüge einiger Unterhaltungsproduzenten betroffen, die von Hamburg, Köln oder München nach Berlin kamen. Die ihrer Unternehmen beraubten Städte beschwerten sich bitterlich über das fast kriminelle Handeln der Berliner Firmenabwerber. Da klingt es fast paradox, dass sich ausgerechnet eine Unternehmung zu einer richtigen Erfolgsgeschichte „made in Berlin“ entwickelt, bei der echte Kriminelle ihre Finger im Spiel haben.

Die Geschichte begann vor einem dreiviertel Jahr, als der Werbeprofi Stephan Bohle den Verkaufsladen der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel betrat und dort neben Holzspielzeug oder Grills auch ein Paar Turnschuhe entdeckte, die wie hippe Sneakers aussahen. Der 35-jährige Chef der Kreuzberger Werbeagentur „Herr Ledesi“ spürte allerdings sofort den Unterschied: Diese Schuhe erzählen eine spannende Geschichte! Natürlich erzählen die Schuhe eigentlich gar nichts, aber die Fantasie dahinter ist besser als jede Story: Mörder, Betrüger, Diebe produzieren, was die Trend-Guerilleros draußen tragen. Die können ein bisschen schaudern und auf Partys von ihrem Klamottenkauf erzählen.

Drei Monate nach seinem spontanen Knastshop-Bummel wurde aus Bohles Idee Realtität: Inzwischen stellen einige Dutzend Gefangene in Tegel Waren unter dem mittlerweile europaweit geschützten Markenzeichen „Haeftling“ her. Hemden, Hosen, Jacken, Schuhe, Aktentaschen werden als „Jailwear since 1898“ vermarktet, und alle sind begeistert: Die beschäftigten Gefangenen sind froh, dass sie etwas zu tun haben und ihr Taschengeld durch den Lohn (sieben bis zwölf Euro am Tag) aufbessern. Die JVA freut sich über die Beschäftigungsförderung. Am begeistertsten ist jedoch die Kundschaft – und das selbst in Australien, Brasilien, USA, Hongkong oder Tobago. Schon in den ersten drei Wochen wurden via Internet (www.haeftling.de) 4.000 Artikel verkauft. Weil man mit der Produktion nicht nachkam, musste man den Onlinehandel zwischen Juli und Oktober sogar aussetzen. In der JVA Tegel, wo anfangs 60 Häftlinge für das Label produzierten, sind durch den Nachfrageboom rund 20 neue Arbeitsplätze entstanden.

Die Bestellpause wurde gleichzeitig als kreative Pause genutzt, um das Geschäft zu erweitern. Eine neu gegründete Vermarktungsfirma (mit vier festen Mitarbeitern) kümmert sich um den Vertrieb der Produkte, die längst nicht mehr nur aus Tegel kommen. „Einige Anstalten haben sich von selbst bei uns gemeldet, andere haben wir angesprochen. Die Bereitschaft mit uns zusammenzuarbeiten, ist jedenfalls enorm“, sagt Bohle. Alle seien daran interessiert, ihren Inhaftierten Beschäftigung zu bieten. Außerdem steigerten sie dadurch ihre Einnahmen.

Die Angebotspalette ist dadurch erheblich aufgestockt worden. Zwischen 30 und 40 Produkte stellen Gefängnisinsassen in Berlin, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Bayern inzwischen für die Marke „Haeftling“ her. Demnächst soll es auch Bettwäsche, Kochschürzen, Filzpantoffeln, Filzdecken und Marmelade geben. Dabei werden auch Haftanstalten außerhalb von Berlin miteinbezogen: Eine bayerische Haftanstalt liefert Honig, denn in ihr sind zwei Bienenvölker ins Knastleben integriert. Der Clou ist jedoch Wein aus der Schweiz: Die Strafanstalt Lenzburg aus dem Kanton Aargau hat einen eigenen Weinberg und exportiert ihren Roten (Pinot Noir) und Weißen (Müller Turgau) in einer Box mit sechs Flaschen für 120 Euro. Nix für arme Schlucker, schuld an den Preisen sind die hohen Einkaufspreise und der Importzoll.

Die Kriterien, die Stephan Bohle an die Knastware anlegt, sind relativ einfach: „Sie müssen von sehr guter Qualität und interessant sein.“ Die Produktidee habe großes Potenzial, ist er überzeugt, aber man müsse natürlich aufpassen, „um keinen Wildwuchs bei der Verifizierung der Marke zu betreiben.“ Was heißt, dass die Marke beim Kunden glaubwürdig bleiben muss.

Noch scheint genug Luft zwischen den Gitterstäben, damit der Warenverkehr von drinnen nach draußen floriert. Zumal geschickt kombiniert wird: Beispielsweise liefert die JVA Naumburg Geschirrtücher, die sozusagen den Gläserabwasch nach dem Genuss des exklusiven Schweizer Weins stilistisch abrunden sollen. Zum Renner aus Naumburg könnten jedoch auch die Klamotten werden. Bald gibt’s robuste Jeans sowie Stoffanzüge, „ein bisschen derber, aber kein Schnickschnack“.

Doch nicht nur die Männer werden bedient. Weil auch sehr viele Frauen nach Knacki-Fashion verlangten, haben die Hersteller reagiert. Im bayerischen Frauengefängnis Aichach produzieren sie demnächst Jeansröcke und Overalls. Überhaupt zeigen sich die Bayern sehr interessiert, denn gleich mehrere Anstalten arbeiten für das hippe „Haeftling“-Label. Etwaige Befürchtungen, die Vermarktung der Knastaura könnte einigen Stellen nicht gefallen, waren ohnehin unnötig. „Es hat sich noch niemand beschwert, weder aus dem Justizapparat noch von der Kirche“, sagt Stephan Bohle. „Von den Exknackis bekamen wir sowieso viel zustimmende Post.“ Die würden nicht zuletzt deshalb bestellen, damit ihre alten Brüder und Schwestern hinter Gittern was zu tun hätten. Arbeitslos werden die Knastinsassen auf jeden Fall erst mal nicht, allein die Modewelt bietet genug Möglichkeiten für weitere Gefängnisprodukte. Angedacht ist zum Beispiel die Ergänzung der Sommerkleidung durch eine Winterkollektion. In der bayerischen JVA Eichach wird im Januar ein Parka hergestellt.

Noch sind die Produkte in der Regel komplette Eigenkreationen der Haftanstalten. Künftig könnten jedoch externe Designer an der Entwicklung mitwirken. „Einige Hochschulen haben schon angefragt“, sagt Stephan Bohle. „Deshalb werden wir wohl 2004 einen kleinen Wettbewerb für Design-Studenten ausloben, was sie sich alles Sinnvolles vorstellen können.“ Vorerst nicht eingehen will man auf die Anfragen von Versandhäusern. Um „Haeftling“ zu einer exklusiven Marke zu machen, werden die Produkte ausschließlich übers Internet und die JVA-Shops vertrieben. Außerdem ist für den Sommer die Eröffnung eines Flagshipstores in Berlin geplant.

Erstmals wurde hier jetzt auch öffentliche Reklame für das Label betrieben. Von Bauzaun-Plakaten blickten finstere Gestalten auf die Passanten, um für „Haeftling“ zu werben. Die Models waren allerdings keine Inhaftierten – da wollte die JVA Tegel nicht mitmachen –, sondern auf Bewährung Verurteilte. „Die sind auch ein bisschen stolz, dass sie für die Marke modeln dürfen“, sagt Stephan Bohle. Er selbst kehrt den Stolz auf seine Idee kaum heraus, obwohl er allen Grund dazu hätte. Immerhin zieht die Sache gewaltige Kreise. Auch in anderen Bundesländern überlegt man, sich an der Geschichte zu beteiligen. Der für 2004 angepeilte Umsatz, der zwischen 600.000 und einer Million Euro liegen soll, dürfte kein Problem werden. Schon die Besucherzahlen im Onlineshop sprechen Bände: Seit der Eröffnung im Juli schauten über eine Million Besucher rein.