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Archiv-Artikel

Verrat in Kabul

Schuld, Sühne und das Gastrecht auf Afghanisch: Der in Kalifornien lebende Exilafghane Khaled Hosseini zeigt mit seinem Debütroman „Drachenläufer“ eindrucksvoll, dass es jenseits der Stereotype des Westens noch ein anderes Afghanistan gibt

von WERNER BLOCH

Was liegt näher als ein Roman über al-Qaida oder über die Taliban? Die Gräuel der islamistischen Eroberung, das Schreckensregime der Mullahs, die Befreiung mit Hilfe einer ausländischen Armee – alles aktueller und ergiebiger Romanstoff. „Viele haben mich gedrängt und gebeten, über die Taliban zu schreiben, als könnte ein afghanischer Autor nichts Besseres tun“, sagt der smarte Exilafghane Khaled Hosseini, der mit seinem Debütroman „Drachenläufer“ gerade ein kleines literarisches Wunder geschaffen hat: Er hat das wohl spannendste Buch über die Menschen in Afghanistan geschrieben. „Drachenläufer“ ist kein Talibanroman, auch wenn seine Handlung bis in die Gegenwart reicht, sondern ein literarischer Führer in eine andere Welt, die uns mit diesem Buch erstaunlich nahe kommt.

„Ich wollte zeigen, dass es auch ein ganz anderes Afghanistan gibt als in den Stereotypen des Westens“, sagt der 38 Jahre alte Khaled Hosseini, der aus Kabul stammt, aber seit zehn Jahren als Arzt in Kalifornien arbeitet. „Nicht immer haben die Afghanen im Krieg gelebt. Vor der sowjetischen Invasion hatten wir Frieden – in einer Zeit, die für mich eine paradiesische Kindheit war.“

Paradiesisch geht es zunächst auch für den Helden des Romans zu, den zwölfjährigen Amir, der in einem modernen, westlich orientierten Haushalt in Kabul aufwächst – in luxuriösen Verhältnissen, die deutlich machen, wie viel näher Afghanistan einmal an Europa lag. Doch die Idylle hält nicht lange an. Amir, der Sohn eines wohlhabenden Paschtunen, ist mit Hassan befreundet, dem Sohn des Dieners, der im Elternhaus von Amir beschäftigt ist. Hassan zählt zum Stamm der Hasara, die in Afghanistan vielfach verachtet werden. Er ist Amir treu ergeben. Doch die Freundschaft zerbricht, als Hassan eines Tages von einer Gruppe Jugendlicher in einer Gasse vergewaltigt wird – Amir, der Ich-Erzähler, tut nichts dagegen, schaut feige dem Verbrechen zu und wundert sich über seine heimliche Freude an dem furchtbaren Akt. Der Roman verfolgt das Trauma dieser Tat, die Amirs ganzes Leben bestimmen wird, über die nächsten zwei Jahrzehnte: Schuld und Sühne auf Afghanisch.

Amir ist der Antiheld par excellence. Er scheitert nach allen ethischen Maßstäben und ganz besonders nach dem strengen Ehrenkodex der Paschtunen. Aber gerade weil er scheitert, legt er das moralische System der Afghanen bloß. Ungeschriebene Gesetze durchziehen Afghanistan wie unsichtbare Striche auf einer Landkarte. „Drachenläufer“ lässt das Netz dieser sozialen Beziehungen und der Moral in Afghanistan sichtbar werden. Das Buch ist nicht nur ein Psychogramm Amirs, sondern der gesamten afghanischen Gesellschaft – und das alles quasi nebenbei, höchst unterhaltsam und mit den Mitteln der Fiktion.

„Als ich das Buch schrieb“, sagt Hosseini, „wollte ich nicht die afghanische Kultur erklären, sondern einfach die packende Geschichte zweier Jungen und ihrer Freundschaft schreiben.“ Doch während des Schreibens veränderte sich die Welt: Der 11. September kam und der Krieg gegen die Taliban. „Da verstand ich, dass das Buch, wenn es erfolgreich sein sollte, zu einem besseren Verständnis der Afghanen beitragen und mit einigen Vorurteilen aufräumen müsste – etwa der Gleichsetzung von Taliban, Afghanistan und Terrorismus.“

Die Rolle Amerikas am Hindukusch sieht Khaled Hosseini als äußerst prekär, geprägt von einer Reihe unverzeihlicher Fehler: Die Amerikaner hätten selbst die Warlords hochgepäppelt und würden nun nicht mit ihnen fertig – genau das können ihnen die Afghanen nicht verzeihen. Und: Die Vergewaltigungsszene in dem Buch habe auch etwas mit der Vergewaltigung Afghanistans durch das Ausland zu tun: „Sie ist auch das Symbol für das, was mit Afghanistan geschehen ist. Denn nachdem es seinen Zweck erfüllt hat, kehrte die Welt dem Land den Rücken zu und hat es der inneren Gewalt überlassen.“

Khaled Hosseini wollte den Afghanen, die oft nur als Stereotype und namenlose Opfer dargestellt werden, mit seinem Roman ein menschliches Gesicht geben. Vor allem in den Kindheitsszenen gelingt ihm das außerordentlich gut: Wunderbar die leichten, fast traumhaften Sequenzen beim Drachenwettbewerb, bei dem die Kinder von Kabul versuchen, die Drachen der anderen mit ihren durch Glasscherben messerscharf aufgerüsteten Schnüren zu durchtrennen und zum Absturz zu bringen – trudelnde Drachen und ein triumphaler Sieger am Himmel, ein rituelles Gewaltspiel als Einführung in die Gesellschaft.

Amir wandert schließlich nach Amerika aus, kehrt jedoch zwanzig Jahre später zurück. Er deckt die Lügen im Hause seines verstorbenen Vaters auf, findet heraus, dass er und Hassan Halbbrüder sind, und versucht, seine Schuld an Hassans Familie abzutragen. Individuelle Verfehlung und die Missgeschicke des ganzen Landes kommen in dieser Handlung zusammen. Afghanistan zu verstehen, fällt dennoch nicht leicht. „Drachenläufer“ enthält zum Beispiel furchtbare Sätze über die Rolle von Frauen in der Ehe. Eine afghanische Frau, heißt es, brauche unbedingt einen Ehemann – auch wenn der alle Ideen und Träume in ihr zum Verstummen bringt.

„Drachenläufer“ entstand als eine Art Schreibexperiment: Ursprünglich eine Kurzgeschichte für ein Seminar in kreativem Schreiben, begann sie laut Hosseini „plötzlich ein Eigenleben“ zu führen und wuchs sich zu einem Roman aus. Dieser verschafft uns mit seinem klaren, analytischen Blick und seiner gleichzeitig geradezu zauberhaften Sprache nicht nur ein sinnliches Lesevergnügen; sondern er entschlüsselt uns auch die Logik und die Moral seiner Ethnien. So erinnern wir uns noch gut an die vollmundige Aufforderung von Präsident Bush, die Taliban sollten Ussama Bin Laden ausliefern, andernfalls gebe es Krieg. Das aber war nach den Spielregeln der afghanischen Gesellschaft gar nicht möglich: Nach dem „Wali“ der Paschtunen, dem Ehrenkodex, konnte Bin Laden als Gast nicht ausgeliefert werden – „das wäre das Schlimmste auf der Welt“, sagt Hosseini. „Im Gegenteil: Man muss den Gast beschützen, auch wenn es das eigene Leben kostet. Das schreibt uns unser Ehrenkodex zwingend vor.“

Khaled Hosseini: „Der Drachenläufer“. Aus dem Amerikanischen von Angelika Naujokat und Michael Windgassen. Berlin Verlag, 2003, 384 S., 22 Euro