: Schwitters im Stubaital
500 Jahre ästhetische und wissenschaftliche Vermessungsarbeit: Das Mart in Rovereto zeigt in einer aufwändig inszenierten Ausstellung „Die Berge in Kunst und Wissenschaft von Dürer bis Warhol“
VON BRIGITTE WERNEBURG
In diesem Fall hat Fliegen seinen Reiz. Am besten bucht man den Fensterplatz samt dem guten Wetter für die Rückreise. Denn nach dem Besuch der Ausstellung „Montagna – arte scienza mito“ im Museo di arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto (Mart) schaut man noch einmal interessierter und vor allem informierter auf die merkwürdigen Faltungen und Verwerfungen der Alpen, die man auf dem Weg von Italien nach Deutschland notwendigerweise überquert. Eine gewisse Bestürzung und Beklemmung lässt sich beim Anblick des zerklüfteten Felsmassivs aus der Vogelperspektive nicht ganz verleugnen. Die Abscheu und die Angst, die der Anblick der Berge in früheren Jahrhunderten erregte, erscheint also nicht ganz unerklärlich. Freilich wundert, dass Faszination nicht mit im Spiel gewesen sein soll.
Doch Begeisterung, Interesse erregten die Berge nur zögerlich. Die Geschichte, wie die unerklärlichen Missbildungen der Erde, die Augustinus noch tumores terrarum nannte, ein erklärbares Phänomen der Evolution wurden und darüber hinaus Anlass ästhetischen Genusses, breiten die Kuratorinnen Anna Ottani Cavina (Kunst) und Paola Giacomoni (Wissenschaft) in mehr als 400 Exponaten aus. Die Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen, seltenen Bücher, Karten, Kristalle, Versteinerungen, Modelle und wissenschaftlichen Instrumente stammen aus den vergangenen 500 Jahren. Sie nehmen in dem vor einem Jahr eröffneten Museumsgebäude von Rovereto 35 große Oberlichtsäle mit der stattlichen Ausstellungsfläche von 5.600 qm ein. Das Mart in Rovereto ist ein großes Museum, das sich klein macht, weil der Schweizer Architekt Mario Botta den mächtigen Bau von der Straße weg, in den Rücken zweier historischer Palazzi stellte.
Zur Zeit, als diese Patrizierhäuser entstanden, glaubte man, die Kleinen Dolomiten, die Rovereto überragen, seien das Produkt der Sintflut. Bis ins 19. Jahrhundert immerhin wurde der Genesis-Mythos als historischer Bericht tatsächlich stattgehabter Ereignisse betrachtet. Und geologische Erklärungsversuche, die nicht unter den Verdacht der Häresie fallen wollten, taten gut daran, sich an die Bibel zu halten. Freilich waren in diesem Fall die Berge, wie die gesamte Erdgeschichte, noch nicht einmal 10.000 Jahre alt. Doch was war dann von Versteinerungen zu halten, wie sie das Mart ausstellt, die Tiere zeigen, die die Bibel nicht kannte? Es darf als einer der besten Einfälle der Ausstellung gelten, dass sie parallel zur ästhetischen Entdeckung der Berge deren wissenschaftliche Eroberung nachzeichnet. Angesichts der enormen Schwierigkeiten des gebildeten Europa, sich die Entstehung der Erdoberfläche und gar der in ihr verborgenen Schätze zu erklären, lässt sich erst die Leistung ermessen, die die schlichten, dokumentierenden Aquarellzeichnungen etwa von Albrecht Dürer darstellen, die einen Baum auf einem Felsen oder einem Höhleneingang zeigen. Denn wie behandelt man ästhetisch eine Materie, die eigentlich ein einziges Rätsel ist? Zwangsläufig, so legt es die Ausstellung nahe, erweitert sich das künstlerische Herangehen in ein wissenschaftliches. Und umgekehrt bezeugt die Wissenschaft ihr penibles Studium, indem sie ihre Funde ganz selbstverständlich höchst kunstvoll präsentiert.
Am schönsten gipfelt diese Haltung in den Zeichnungen, die Alexander von Humboldt nach seinen Reiseskizzen anfertigen ließ. Ein Berg ist dann zur Hälfte zartestes Naturgemälde, während er auf der anderen Hälfte nichts als botanische Namen aufweist. Namen, die die Pflanzen benennen, die auf diesem Berg wachsen, und zwar auf der genauen Höhe ihres Standorts. Fast selbstverständlich umrahmt ein aufwändiges Tabellenwerk diese „Géographie des plantes équinoxiales“ (1805). In diesem Moment erscheint „Montagna – arte scienza mito“ im Verbund mit den sich aktuell häufenden Kartografie-Ausstellungen zu stehen, die untersuchen, wie Ordnungsmuster wie Kartografie, Archivstrukturen oder wissenschaftliche Systematik in der heutigen künstlerischen Produktion verwendet werden. In Rovereto kann man die historische Spur dieses Ansatzes verfolgen.
Trotzdem liegt das Schwergewicht der Ausstellung natürlich auf der klassischen Landschaftsmalerei des 18. und 19. Jahrhunderts. Hier endlich, bei den englischen Meisterwerken von Turner, Cosenz und Wright of Derby oder der deutschen und französischen Malerei von Füssli, Wolf, Volaire, Hackert, Martin und Doré, ist eine deutliche Faszination an der Bergwelt zu spüren. Romantisch entrückt zeigt sich 1808 der nebelverhangene Berggipfel bei Caspar David Friedrich. Der Vollmond erhellt die Fjorde und Berge der nordischen Malerei, etwa in Knud Andreassen Baades „Küstenspaziergang“ von 1851. Erstmals in Italien werden auch die Werke der großen amerikanischen Landschaftsmaler gezeigt. Betrachtet man die behäbige Mächtigkeit der Felsformationen in Thomas Hills „Yosemite Tal“ (1885), erinnert man sich an ein Aquarell Goethes wenige Räume zuvor, in dem der Dichter die Berge der Alten und der Neuen Welt gegenüberstellte. Zwar ist das Matterhorn ein Wicht gegenüber dem Chimborazo, aber wie dramatisch es doch seine Höhe erreicht!
Auch bei den Kunstwerken überrascht die Ausstellung, wie in ihrer wissenschaftlichen Abteilung, mit Exponaten, die nicht ohne weiteres zu erwarten sind. Wie dicke, perlmuttschillernde Tortencreme etwa trägt Kurt Schwitters den Schnee im „Stubaital“ (1932) auf. Und weil diese Schneedecke jeden Moment aufzubrechen scheint, erinnert man sich auch hier an ein zuvor gesehenes Werk, René Descartes Essai „Principia Philosophiae“ (1644), in dem Descartes seine Theorie von der Sonnenhitze entwickelte, die die ehemals makellos glatte Kruste der Erde wie frisch gebackenes Brot aufbrechen ließ, wodurch Berge, Täler und Meere entstanden. Einzig der Mythos der Berge, die reaktionäre Politik und das Geschäft, die daraus auch gemacht werden, kommen in der sonst so reich und auch im Detail überaus sorgfältig angelegten Ausstellung zu kurz. Allein Hamish Fulton thematisiert in seiner speziell für die Ausstellung hergestellten Wandarbeit einen Teil dieser Realität. „Heart – Lungs“ steht groß, schwarz und weiß auf die Wand geschrieben, und dazwischen liest man: „A guided and sherpa assisted climb to the summit plateau of Cho Oyu at 8175 meters via the classic route without supplementary oxygen Tibet autumn 2000“.
Vielleicht rührt diese Schwäche aus einer Zurückhaltung, die das Stilbewusstsein fordert, das die Ausstellung prägt. Subtile Gegenüberstellungen wie Wolfgang Tillmans Fotografie einer Schafherde auf dem „Zermatt“ (1991) und Francesco Lojaconos in Öl gemalter Schafherde von 1872 belegen dieses Stilgefühl wie die Wahl nur einer Arbeit von Andy Warhol. Nur der Feuer speiende „Vesuvius“ (1985) wird in Rovereto gezeigt, und eben kein Neuschwanstein, nirgendwo. Und so findet sich in der geschmackssicheren italienischen Provinz eine Ausstellung, die jede Metropole zieren würde.
Bis 18. April, Mart Rovereto, Filmprogramm, Katalog (Italienisch) 50 Euro, www.mart.trento.it