: Die Metaphysik der Halle
Der Himmel über der Ruhr soll heilig werden: Gérard Mortier startet mit Engeln und Eremiten in die Hauptsaison der Ruhrtriennale – beim Kampf um Publikum und Prestige kann er Beistand brauchen
von MORTEN KANSTEINER
Man mag sie nicht schön finden, die ehemaligen Industrieanlagen, in denen die Ruhrtriennale zu Hause ist. Doch zweifellos sind sie erhaben. Kant lehrt: „Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist.“ Und dass sie groß sind, darf man von der Bochumer Jahrhunderthalle (158 Meter waagerecht) oder dem Gasometer in Oberhausen (117 Meter senkrecht) behaupten.
Die Industriemonumente sind auch in der Lage, jene süßen Symptome hervorzurufen, die den Eindruck des Erhabenen kennzeichnen. Bei günstigen Bedingungen – Zwielicht und Aperitif sind anzuraten – kann sich der Besucher leicht davon überzeugen: Die unmenschlichen Dimensionen machen schaudern, schmucklose Wände scheinen ins Unendliche zu streben, und wenn die Volumina die Sinne endgültig übersättigt haben, zieht aus den Ecken der Hauch des Übersinnlichen.
Gérard Mortier, der ehemalige Jesuitenschüler und jetzige Triennale-Leiter, hat ihn natürlich gespürt. Und er traut sich, das Erhabene der Arbeiterorte mitten hineinzustellen in die Transzendenztradition Europas. Die Fotos im Programmheft für die kommende, die Hauptsaison der ersten Ruhrtriennale zeigen die Kathedralen des Industriezeitalters neben denen der Gotik. Vor allem aber hat Mortier auch für das Programm selbst – insgesamt 23 Produktionen zwischen Ende April und Mitte Oktober – tief in den Motivvorrat des Christentums gegriffen.
Drei Heilige erscheinen an der Ruhr: der „Saint François d‘Assise“ von Messiaen, die „Jeanne d‘Arc au bûcher“ von Honegger und der Heilige Antonius in einer Inszenierung nach Flaubert. Durch die Höhen des Gasometers von Oberhausen schweben Engel – auf den riesigen Bildwänden von Bill Violas Installation „Five Angels for the Millennium“. Stefan Bachmann inszeniert eine Geschichte von Entsagung und Gnade in Form von Claudels „Der seidene Schuh“.
Mit diesem Monumentalwerk kommt gleichzeitig die wichtigste Ersatzreligion des Abendlandes ins Spiel: die irdische Liebe. Auch sie bricht auf der Triennale mit voller Wucht aus. Gleich zur Eröffnung der Saison am 30. April geht Racines „Phädra“ unter der Regie von Patrice Chéreau an der Liebe zu ihrem Stiefsohn zugrunde. Zwei Abende erkunden den Rausch der Gefühle mit szenischen Mischungen aus Text und Musik: „Sentimenten“ von ZT Hollandia und „Begehren“ von Beat Furrer. Mortiers programmatische Linie ist klar zu erkennen: Sie verlängert die Fluchtlinien der Industriehallen bis in die Wolken, wo Engel und Liebende sitzen. Zwar wird es den einzelnen Produktionen kaum gelingen, den Schwindel der Perspektive an jedem Abend mit Glaubenstaumel oder Liebesglück aufzuladen. Aber immerhin: Der Versuch eint das Programm – mehr, als man das bei Festivals gewohnt ist.
Dazu kommt noch der rote Faden der Form. Wie schon im Herbst, bei der ersten Veranstaltungsserie der Ruhrtriennale, arbeitet Mortier an der Aufhebung von Genregrenzen. Viele Produktionen mischen dramatische und Prosatexte, E- und U-Musik, Tanz und Schauspiel in einem Verhältnis, das man nicht einfach „Oper“, „Tanztheater“ oder „Sprechtheater“ nennen kann.
Ein hübsch geschnürtes Konzept also. Leider reicht das nicht, um mit der Ruhrtriennale zu bestehen. Mortier muss auch Karten verkaufen. Mit 67 Prozent Auslastung hat er in der Herbstsaison sein Soll verfehlt. Gleich fühlten sich viele eingesessene Kulturmenschen, die dem neuen Festival an der Ruhr ohnehin skeptisch gegenüberstehen, in ihren Zweifeln bestätigt. Da Mortier trotz leerer Kassen eine Menge Geld bekommt – 42 Millionen Euro gibt das Land für den Zeitraum von 2002 bis 2004 –, kann er bei Kollegen und Politikern nicht mit Nachsicht rechnen.
Bei der Pressekonferenz zur neuen Festivalsaison erklärte Mortier standhaft, er lasse sich nicht zu Populismus verführen. Die Auswahl der Autoren und Komponisten gibt ihm Recht. Allerdings war schon im Herbst bei der Umsetzung der Stoffe eine Schwäche fürs Gefällige festzustellen. Einige Produktionen fielen allzu irritationsfrei aus, lauter Harmonie und schöne Farben. Gerade angesichts des Zwangs zur höheren Auslastung könnte sich das wiederholen. Etwa mit „Sentimenten“ von ZT Hollandia: Die Zutaten – ein Ruhrpott-Roman und Verdi-Melodien – lassen ein süßliches Gemisch erwarten. Zumal die Theatertruppe aus Eindhoven ihre „Bakchen“ im vergangenen Jahr hart an der Grenze zur Folklore entlangsteuerte.
Diese „Bakchen“ illustrieren noch ein anderes Problem der Ruhrtriennale: Sie waren eine Koproduktion des Festivals, aber schon ein alter Hut, als sie im Oktober an der Ruhr ankamen. Die Kritiker hatten zuvor über die Premiere in Eindhoven geschrieben oder über das Gastspiel beim „Theater der Welt“ in Köln. Ähnlich lief es mit der „Schönen Müllerin“ von Marthaler. Das Resultat: Kaum jemand weiß, dass die gefeierte Inszenierung nicht nur für Zürich, sondern auch für die Ruhrtriennale entstanden ist.
Solche Koproduktionen, die aus Budgetgründen unvermeidlich sind, tragen viel zur Substanz, aber wenig zum Prestige des Festivals bei. Doch gerade am Image liegt den Auftraggebern in der Landesregierung: Da die Montanidentität endgültig dahin ist, soll das Ruhrgebiet als Kulturstandort glänzen – und zwar bis ins Ausland.
Im Prinzip ist Mortier da der richtige Mann. Er hat von seiner Zeit in Salzburg ein wenig Glamour mitgebracht, und er kennt ein paar Stars. Wie zum Beispiel Bären-Gewinner Patrice Chéreau. Seine „Phèdre“, eine Koproduktion der Triennale mit dem Théâtre de l‘Odéon, hat bei der Pariser Premiere Mitte Januar jede Menge Aufmerksamkeit bekommen. Überall waren Elogen zu lesen. Dumm nur: Die Koproduzenten von der Ruhr hat wieder niemand erwähnt.