In die Kamera reden

In Frank Castorfs Inszenierungen ist das Filmbild mehr als ein Konkurrent der Schauspieler. Zwischen den Medien entstehen neue Erzählformen

VON MARGARETH OBEXER

Ein Panzer auf der Bühne: Gleich in drei Inszenierungen der letzten Zeit war dies der Moment, die Wahrnehmung der Welt durch die Medien zu zitieren. In Matthias Hartmanns Inszenierung „1979“ nach Christian Kracht robbt sich auf einer Leinwand ein Panzer durch die Wüste; dann bemerkt man ihn auf der Bühne, als Spielzeugpanzer in einem Sandkasten, auf die Leinwand projiziert von einer Kamera. Auch in Castorfs Inszenierung „Forever young“ fehlt der Panzer nicht, und in Stuttgart ist er in der Inszenierung von „Lady Liberty“ von Gabriele Gysi zu sehen. Wen wundert’s, vereinigt doch der Panzer einen ganzen Fundus an medialer Präsenz. Und warum sollte nicht gerade das Theater, wo Welt immer schon künstlich erzeugt wurde, sich der medialen Künstlichkeit der Welt annehmen?

Die Volksbühne in Berlin tut es mit allen ihr zur Verfügung stehenden Medien, Technologien und Wissenschaften. So gut wie alle Künste, die ein Theaterhaus unter seinem Dach vereinigt, sind an theaterexterne Forschungs- und Gestaltungsbereiche angedockt. Die Grenzen von der Aufführung zum Live-Kino oder TV-Serie sind fließend geworden. Auch ein Cyberspace in Kollaboration mit der Hochschule für Kunst- und Medientechnologie in Karlsruhe entsteht. Carl Hegemann, der Chefdramaturg der Volksbühne, sagt dazu: „Wir möchten uns unabhängig machen von Zeit und Raum.“ Der Ort scheint also der richtige zu sein für das dreitägige Symposium am Wochenende, das sich mit dem Einfluss der Medien auf die Bühne beschäftigt. Das mediale Bild ist hier kein Konkurrent des Schauspielers mehr, sondern eine zusätzliche Erzählform.

In Castorfs „Endstation Amerika“, dem Beginn seiner Arbeit mit der Zerlegung der Perspektive, ist die Handkamera so gut wie immer präsent. Mit ihr verstehen sich die Protagonisten weitaus besser als untereinander. Während Stanley Kowalski (Henry Hübchen) seine Frau durch die Luft wirbelt und schließlich in die Matratze rammelt, ist er sorgsam darauf bedacht, dass sich das Kameraauge nicht von ihm abwendet. Die Kamera baut auf, spiegelt, hält jedem Blick stand; sie bietet Intersubjektivität an, was sich untereinander als durchwegs kompliziert erweist.

Die Kamera steht zwischen den Figuren, genau genommen: zwischen getrennten Räumen, und allein sie reicht in beide Räume und fungiert als einziges Medium, anhand dessen sich die Protagonisten überhaupt verständigen können. Es gibt den direkten Zugang nur zur Linse – und nur über die Linse.

Der Konflikt zwischen Theater und Film ist nur ein künstlicher Streit um die Kompetenz der Medien in ihrer Deutung der Wirklichkeit. Vermutlich kommen die stärksten Schutzinstinkte gerade von jenen, die den Menschen als Bruchstück, als zerlegbares, mannigfach potenzierbares oder beliebig konstruierbares Subjekt zwar abstrakt nicht leugnen, für den Theaterraum und seinen Schauspieler aber lieber darauf verzichten.

Doch gerade die Arbeit von Frank Castorf zeigt, wie sich durch die Schnitte zwischen den Medien eine neue Wahrnehmung herausbilden kann. Die Integration von Videoinstallationen gibt sich bei Castorf als konsequente Weiterentwicklung seiner Regiekunst zu erkennen, bei der die Rauminstallationen seines Bühnenbildners Bert Neumann nicht wegzudenken sind.

In „Endstation Amerika“ wirft Mitch (Bernhard Schütz) einen Koffer gegen die Wand des Schlafzimmers, verfehlt sie aber; der Koffer rumpelt über die Bühne und landet schließlich auf dem blanken Parkett. Mit dem Satz „der Koffer ist aus der Wohnung gefallen“ springt Schütz von der Bühne und holt ihn. Mit dieser kleinen Szene lässt sich vortrefflich Castorfs Erzählstil beschreiben: die Geschichten purzeln wie der Koffer über die Bühne und landen irgendwo am Rande. Nicht mehr der zentrale Blick in der Mitte der Bühne kümmert sich um sie, sondern das erst mal beliebige Herumstreifen der Linse einer Videokamera liest sie auf und untersucht sie wie ein fremdes Tier. Die Kamera erzählt ihren Teil der Geschichte, sie ist nicht auf das Wesentliche ausgerichtet, auf den Kern des Problems; die Videokamera schnüffelt, ohne sich in besonderer Weise für etwas Besonderes zu interessieren, und sie findet, was herumliegt. Fragmente von Geschichten, die ausgefranst sind, ausgesondert wurden, wie ihre Menschen darin.

Auch in den unzugänglichen Räumen der Bühnenbilder in Castorfs aktuellen Inszenierungen findet die Live-Kamera zu ihrer Funktion. Es gibt kein Zentrum und keine Zentralperspektive mehr. Die entscheidenden Begegnungen finden am Rande statt, wie nebenbei bemerkt, von einem der zahllosen Fluchtpunkte aus, zumindest von so vielen, dass die Protagonisten ihrer nicht habhaft werden können. Der Raum in der Mitte hingegen scheint leer und gleichgültig, nicht mehr zuständig für die großen Stoffe der Einzelnen.

„Jedes Theater“, so Diedrich Diedrichsen, träume davon, „mehr zu sein als Theater“. In nahezu allen Inszenierungen Castorfs zeigt sich dessen Bestreben, den bedeutungstragenden Mittelpunkt des Theaters aufzuheben. Die Protagonisten halten sich meist woanders auf, wo nur das Kameraauge dabei ist. Und es entsteht eine seltsame Wirkung auf das Zentrum, das plötzlich als solches unzugänglich erscheint.

Schnittstelle Theater oder: Wie auf der Bühne Film, Video und visuelle Medien verwendet werden und warum. Volksbühne Berlin. Vom 9. bis 11. Januar 2004