Der totale Feldzug

Betrug, Unterdrückung, Landverlust – 1904 reicht es den Herero mit der Kolonialherrschaft. Sie revoltieren. Die Deutschen machen keine Gefangenen

VON JOACHIM ZELLER

Man schreibt den 12. Januar 1904. In Okahandja in Deutsch-Südwestafrika kommt es zum ersten Schusswechsel zwischen Mitgliedern des Herero-Volkes und deutschen Kolonialsoldaten. In den folgenden Tagen überfallen die Herero unter ihrem Führer Samuel Maharero eine Reihe von Farmen weißer Siedler, Militärstationen und die Eisenbahnlinie Windhoek–Swakopmund. Der Aufstand gegen die Kolonialmacht beginnt. Er scheitert – aber nach der militärischen Niederlage der Aufständischen erlässt der Führer der deutschen Truppen, General Lothar von Trotha, seine berüchtigte Proklamation, mit der er ankündigt, keine Gefangenen mehr zu machen und jeden Herero auf deutschem Gebiet zu erschießen. Mit seinem „Schießbefehl“ lässt Trotha – der in den Kategorien des „Rassenkampfs“ denkt und handelt – erkennen, dass er tatsächlich die physische Vernichtung des Herero-Volks beabsichtigt. Der Krieg der deutschen Schutztruppen wird heute von den Historikern mehrheitlich als Völkermord bewertet.

Was trieb die Herero zum Aufstand? Als ursächlich gilt die Verschärfung der sozialen Spannungen seit Proklamation der deutschen Herrschaft im Jahr 1884. Immer mehr Weiße wanderten seitdem ein, es häuften sich Übergriffe wie Vergewaltigungen von Herero-Frauen, die meist ungeahndet blieben. Unmut provozierten auch die brutalen und betrügerischen Geschäftspraktiken vieler weißer Händler. Sodann sahen sich die Herero mit Landverlust konfrontiert und mit der beginnenden Einrichtung von Reservaten. Unmittelbarer Anlass für den Ausbruch der Feindseligkeiten waren Gerüchte von Morddrohungen gegen Samuel Maharero.

Da der amtierende Gouverneur, Theodor Leutwein, nach Auffassung Berlins nicht energisch genug durchgreift, beordert Kaiser Wilhelm II. Generalleutnant Lothar von Trotha in die Kolonie und betraut ihn mit dem Oberbefehl über die Schutztruppe. Der Kaiser weiß, wen er ausgewählt hat: Von Trotha eilt der Ruf eines unnachgiebigen Kolonialmilitärs voraus. Nach verschiedenen Gefechten mit wechselnden Erfolgen für beide Kriegsparteien findet am 11./12. August 1904 die „Kesselschlacht“ am Waterberg statt, wo sich die Herero mit Kriegern, Frauen, Kindern und Viehherden versammelt haben. Sie können ausbrechen und flüchten ostwärts – in Richtung des wasserlosen Sandfeldes Omaheke. Daraufhin legen die Deutschen einen etwa 250 Kilometer langen Absperrgürtel im Westen und Südwesten der Omaheke an. Einheiten besetzen entlang dieser Linie die Wasserlöcher und drängen die fliehenden Herero-Verbände noch tiefer in die Omaheke hinein. Am 2. Oktober erlässt General Trotha seinen „Schießbefehl“. Nur wenigen Herero gelingt die Flucht ins benachbarte Betschuanaland (heute Botswana) oder ins nördlich gelegene Ovamboland, abertausende verdursten.

Mitte Dezember kommt es zur Kehrtwende in der deutschen Kriegführung: Aufgrund des von Kaiser Wilhelm II. erlassenen Gnadenbefehls sollen die überlebenden Herero in „Konzentrationslagern“ gesammelt werden. Dort werden sie sich zusammen mit dem Volk der Nama wiederfinden, das sich Anfang Oktober 1904 im Süden der Kolonie unter der Führung von Hendrik Witbooi erhoben hatte. Die Nama vermeiden offene Feldschlachten und führen einen Guerillakrieg. Die deutsche Seite reagiert darauf mit einer Politik der „verbrannten Erde“. Letztlich erliegt auch dieser Widerstand der Übermacht des deutschen Kolonialmilitärs mit zum Schluss 14.000 Soldaten.

Fast 18.000 überlebende Afrikaner – Männer, Frauen und Kinder – werden vom Jahreswechsel 1904/05 an in den Konzentrationslagern interniert. Nahezu jeder zweite Häftling kommt ums Leben. Obwohl einzelne Nama- Gruppen ihren Widerstand noch aufrechterhalten, wird der Kriegszustand in der Kolonie am 31. März 1907 als beendet erklärt; die Aufhebung der Kriegsgefangenschaft und damit die Auflösung der Lager findet Anfang 1908 statt.

Auf deutscher Seite lassen 1.750 Menschen ihr Leben. Genaue Angaben über die Zahlen der Toten auf afrikanischer Seite können nicht gemacht werden, da nur Schätzungen über die Bevölkerungszahlen aus der Zeit vor 1904 vorliegen. Es wird angenommen, dass 35 bis 80 Prozent der rund 40.000 bis 100.000 Herero und bis zu 50 Prozent der zirka 22.000 Nama dem Kolonialkrieg zum Opfer gefallen sind.

Die überlebenden Herero und Nama verlieren ihren gesamten Land- und Viehbesitz und unterstehen fortan rigider Kontrolle. Mit Hilfe strenger Passgesetze soll die afrikanische Bevölkerung der Kolonie lückenlos erfasst und zu willfährigen Untertanen umerzogen werden. Doch die Afrikaner ordnen sich keineswegs widerstandslos der totalitär-rassistischen Kolonialgesetzgebung unter, sodass die deutschen – und nach dem Ersten Weltkrieg die südafrikanischen – Kolonialherren ihre Machtvorstellungen nicht ungehindert verwirklichen können.

Als gnadenloser Vernichtungsfeldzug von deutscher Seite geführt, markiert der südwestafrikanische Kolonialkrieg den Beginn der Entwicklung hin zum „totalen Krieg“. Zurzeit dominiert die Frage, inwieweit es Kontinuitäten zwischen diesem kolonialen Völkermord und dem Holocaust gibt, die geschichtswissenschaftlichen Debatten.

Hinweis: JOACHIM ZELLER, geb. 1958 in Swakopmund/Namibia, lebt als Historiker in Berlin.