: Tarek, nicht Fritz
Januar 1971: In Offenbach wird Tarek Al-Wazir geboren. Sein Vater ist Jemenit, seine Mutter Deutsche. Der Vater kehrt schon bald in seine arabische Heimat zurück, der Sohn bereist den Jemen erst Jahre später.
Januar 2008: Grünen-Spitzenkandidat im Hessen-Wahlkampf. Die CDU warnt auf Plakaten vor einem Linksruck: „Ypsilanti, Al-Wazir und die Kommunisten stoppen!“ Bei der Wahl fallen die Grünen von 10,1 auf 7,5 Prozent. CDU-Chef Roland Koch bleibt geschäftsführender Regierungschef. Die Mehrheit von SPD, Grünen und Linken im Landtag mit zwei Stimmen gegenüber CDU und FDP scheint zu dünn.
4. November 2008: An diesen Tag will Hessens SPD-Chefin Andrea Ypsilanti als Ministerpräsidentin kandidieren. SPD und Grüne haben ein Bündnis vereinbart, in dem Tarek Al-Wazir Umweltminister und Vize-Regierungschef werden soll. LÖW
AUS OFFENBACH GEORG LÖWISCH
Er wäre nicht derselbe Mann. Dabei ist es nur eine Ansammlung von Buchstaben. „Tarek Al-Wazir“ steht im Pass. Nicht der Vorname, den der Standesbeamte vorgezogen hätte. Und auch nicht der Nachname, den seine Mutter als Mädchen trug. Sonst hieße er Fritz Knirsch, und wie gut würde das eigentlich passen zu vielen Dingen in diesem Leben. Geboren im Stadtkrankenhaus Offenbach, Doppelhaushälfte in Rumpenheim, Besucher der Heimspiele der Kickers.
Aber er heißt nicht Fritz Knirsch.
Das hat sein Leben bestimmt in diesem Land, wo es nicht reicht, dass man hier geboren und aufgewachsen ist. Wenn der Name nicht so ähnlich klingt wie bei den Leuten um einen herum, kann es passieren, dass man nie ganz dazugehört.
Er kann sagen, dass er kein Einwanderer ist, er kann machen, was er will. Die anderen reagieren darauf. „Mit diesem Namen unterwegs sein ist nicht irgendwas“, sagt Tarek Al-Wazir. Es klingt ruhig und nicht, als wollte er sich wichtig machen. Er stellt es einfach fest. Der Name hat seinem Leben eine Richtung gegeben, die ihn nun hierher geführt hat, ins Zentrum des Machtspiels in Hessen. Tarek Al-Wazir, 37 Jahre, Grüner, erster Minister mit einem arabischen Namen. Oder Tarek Al-Wazir, 37 Jahre, Grüner, Krisenmanager nach einem geplatzten rot-rot-grünen Versuch. Dass er aussteigt, ist wenig wahrscheinlich. Er ist ehrgeiziger als andere Grüne seiner Generation. Ist er härter, als Fritz Knirsch es wäre?
Es ist Mittwoch, kurz nach 23 Uhr. Tarek Al-Wazir sitzt am Tresen der Weinstube, Offenbach, Taunusstraße. Im Raum sind die Tische zusammengestellt und an der langen Tafel feiert das arabisch-jüdische Jugendorchester einen Auftritt. Al-Wazir hat auch gerade einen Auftritt hinter sich. Vor dem Lions-Club Offenbach hat er über Politik und Moral gesprochen. Er war schlecht vorbereitet, er hat den ganzen Tag mit Andrea Ypsilantis SPD verhandelt und auf dem Weg vom Autotelefon aus Arbeitsaufträge durchgegeben. Dann, in der Rede, hat er erschöpft um Pointen gerackert und vorgerechnet, wie viele Lehrerstellen soundso viele hundert Millionen Euro ergeben. Die Lions hockten reglos auf ihren Plätzen und verdauten Rippchen und Dampfkraut.
Aber jetzt hat er ein Bier vor sich und seine Augen schauen zufrieden zu den lärmenden Musikern rüber. „Offenbach kann total anstrengend sein.“ Er lacht. Es ist der Abend vor der entscheidenden Runde in den rot-grünen Gesprächen. Aber das findet er ja das Gute an der Landespolitik, dass er vom geleckten Wiesbaden abends nach Hause zurückkann. Er mag Offenbach, die urwüchsige Industriestadt, obwohl kaum mehr Fabriken übrig sind. Aber es ist seine Stadt.
Seine Mutter heißt Gerhild Knirsch. Bei einem Besuch in Prag lernt sie Mohamed Al-Wazir kennen. Er kommt aus einer angesehenen jemenitischen Familie, die ihn zum Studieren nach Europa geschickt hat. 1971 kommt ihr Sohn zur Welt. Tarek.
„Mädchen oder Junge?“, fragt der Standesbeamte. Damit das klar sei, müsse wenigstens ein eindeutiger zweiter Name her. „Nehmen Sie Hans“, rät der Beamte, „oder: Fritz.“ Die Eltern wählen als Zweitnamen den des Vaters: Mohamed.
Der Vater versucht vergeblich, in Deutschland anzukommen. Als er zurück in den Jemen geht, ist Tarek drei Jahre alt. Er wächst bei der Mutter auf, sie ist Lehrerin für Deutsch und Französisch. Heute engagiert sie sich bei Attac. Anfang der Achtziger nimmt sie den Sohn mit zu den Friedensdemos. Ihr neuer Mann kämpft im Hüttendorf gegen die Startbahn West des Frankfurter Flughafens.
Tarek und sein Stiefvater mögen sich nicht. Mit 14 verbringt er die Sommerferien im Jemen. Er bleibt. Er geht auf die internationale Schule, lernt Arabisch und Autofahren. Das Offenbacher Schlüsselkind steuert einen Toyota Landcruiser durch ein arabisches Land, das ihm fremd ist wie eine andere Zeit. Aber er ist Teil einer Großfamilie. Al-Wazir heißt übersetzt Minister, es ist ein guter Name in der Hauptstadt Sana’a. Sein Vater hat als Diplomat gearbeitet und ist nun Geschäftsmann. „Du kannst alles erreichen im Leben“, sagt er zu Tarek, seinem Erstgeborenen. „Mach was draus.“
Nach einem Jahr wird es anders. Er sagt, er habe sich allein gefühlt in der anderen Welt. Nur eine Mitschülerin hat jahrelang in Bonn gelebt, sie ist die einzige Jemenitin, die seine zweite Welt kennt. In der Familie wird seine Anwesenheit Alltag. Vorher hat er es genossen, der besondere Teil von etwas Großem zu sein. Nun fängt es an, ihn zu stören, nicht als Individuum wahrgenommen zu werden. Er geht.
Er nennt das heute eine Katastrophe. Aber danach habe er gewusst, wo die andere Hälfte er herkommt. „Ich wäre nicht der, der ich bin, ohne die zwei Jahre in Sana’a.“
Er zieht nach Offenbach zurück, Berliner Straße. Eine Durchgangsstraße mit fleckigen Büroschachteln und Mietshäusern. Eines gehört seiner Tante, er bekommt eine Wohnung. Auf dem Gymnasium setzt er eine selbst verwaltete Cafeteria durch und auf dem Weihnachtsmarkt kümmert er sich um einen Stand für Nicaragua. Am Ende der elften Klasse bleibt er sitzen.
Er engagiert sich so unablässig, wie es die Mutter vorgemacht hat, und traut sich so viel zu, wie es ihm der Vater aufgetragen hat. Die Grünen in Offenbach sind Anfang der Neunziger ein Durcheinander. Friedensleute, Ex-Maoisten, Naturschützer. „Er war nie richtig freakig“, sagt Wolfgang Malik, Offenbachs Grünen-Sprecher. Malik ist Sozialarbeiter, er hat im Nordend ein Boxzentrum für Jugendliche aus Einwandererfamilien aufgebaut. „Als Tarek zu den Grünen gekommen ist, hat er lange die Szenerie beobachtet. Diese riesige, zerstrittene grüne WG.“ Malik war skeptisch, ihm war es nicht geheuer, wie der junge Kerl Fäden spann. Jetzt spricht er bewundernd über ihn. „Am Ende muss man sagen: Er hat uns professionalisiert. Er kann gut Stimmungen erspüren und im Hintergrund rumkordeln.“
Mit Hilfe der Grünen Jugend kommt er 1995 in den Landtag. Der Grüne Horst Burghardt leitet den Innenausschuss, der Neue wird innenpolitischer Sprecher und der Erfahrene sein Mentor. „Er war ungestüm und ehrgeizig“, sagt Burghardt, der heute Bürgermeister einer Kleinstadt ist. „Er ist vorsichtiger geworden, will niemanden vor den Kopf stoßen, jedenfalls bei uns nicht.“ Obwohl er in den Neunzigern bei den Grünen zu den Jüngsten zählt, tritt er auf, als wäre er der Erwachsene. Als der Justizminister Rupert von Plottnitz fast einen Fernsehauftritt verpasst, geht Al-Wazir mit ihm ein Handy kaufen.
Sein Name fällt auf im Landtag.
Ein CDU-Abgeordneter erwähnt stets seinen Zweitnamen: Mohamed. Ein zweiter bittet ihn, ein gutes Wort einzulegen, falls die Moslems die Macht übernehmen. Als Roland Koch 1999 seine Wahlkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft ausgerufen hat, pöbelt ihn auf dem Offenbacher Marktplatz ein Rentner an. „Geh doch zurück nach Sana’a“, ruft ihm ein Jahr später ein dritter CDU-Mann im Parlament zu. Später wird versichert, der Zwischenruf habe „der Student aus Sana’a “ gelautet.
Zugleich wird er zum Vorbild. Wenn er Wolfgang Maliks Boxzentrum in Offenbach besucht, begrüßen ihn die Jugendlichen respektvoll. Sie nennen ihn Tarek. „Er kennt die Codes vom Nordend“, sagt Malik.
Er setzt sich durch. Grünen-Fraktionschef, Mitglied des Bundesparteirats. Er kann organisieren, zuhören, reden. Sein Name bringt ihm Sympathien in der Multikultipartei. 2000 heiratet er Bushra, die Mitschülerin aus Sana’a, mit der er zwei Welten teilt.
Er ist schon Parlamentarier, als er sein Politologiestudium abschließt. Die Diplomarbeit trägt den Titel: „Der aufhaltbare Weg zum Einwanderungsland.“
Er ist nie eingewandert und er kümmert sich um viele Politikbereiche. Aber Einwanderung ist sein Lebensthema, er sucht dieses Thema und es kommt irgendwie immer zu ihm.
In Offenbach wollen die CDU-Stadtverordneten 2005 eine Moschee verhindern. Das Wort Überfremdung fällt. Al-Wazir spricht in der Ratsversammlung über Toleranz, über das Grundgesetz. „Niemand hat während der Rede etwas gesagt“, sagt der Grünen-Fraktionschef Peter Schneider. „Es hat geknistert im Saal.“
Er arbeitet genau, manchmal wirkt er altklug. Er ist der Typ Chef, der den Fahrer fragt, ob der richtig abgebogen sei. Der sich lieber an den Computer eines Mitarbeiters setzt, als Änderungswünsche zu diktieren.
2008 bei der Landtagswahl ist er Spitzenkandidat. Er will die Grünen wieder in die Regierung führen. Dass er alle Verantwortung auf sich zieht, schlaucht ihn. Sein Mentor Horst Burghardt hat das Gefühl, dass er dem Jüngeren helfen muss in dieser Zeit. Sie telefonieren viel. Eines Morgens im Januar ruft Burghardt ihn im Auto an. Er sagt, Al-Wazir habe anders gewirkt als sonst. Ruhig, getroffen.
„Was glaubst du, an was für einem Plakat ich gerade vorbeigefahren bin? Ypsilanti, Al-Wazir und die Kommunisten stoppen. Diese Schweinchen.“
„Ist doch das normale Geschreibsel.“
„Nein. Das ist mein Name.“
Nach einem Wahlkampftermin verweigert er Roland Koch den Handschlag, dem Mann, der den Namen Al-Wazir zu einer Attacke genutzt hat. Im Wiesbadener Kurhaus tritt er zusammen mit Joschka Fischer auf. Ypsilantis Mädchenname sei Dill, ruft Al-Wazir ins Kurhaus, und der Mädchenname seiner Mutter Knirsch. „Ein Plakat, das vor Dill, Knirsch und den Kommunisten warnt, hätte es nicht gegeben.“
Was wird, wenn er jetzt regiert? Rassisten schicken ihm schon Briefe. Und für Einwanderer wäre er ein Zeichen, dass man nicht Knirsch oder Meier heißen muss, um in Deutschland zu regieren. „Man wird daran sehen, wie weit unsere Gesellschaft ist“, sagt Wolfgang Malik. „Eine bestimmte Klientel wird ausrasten“, sagt Horst Burghardt.
Die Belastung wird steigen. Im Sommer ist sein zweiter Sohn auf die Welt gekommen. Seine Frau ist Akademikerin, sie will wieder arbeiten. Er hat wenig Zeit mit ihnen. Er sagt, die ungeklärte Machtfrage in Hessen habe ihn gequält. „Das letzte Jahr hat mich aufgefressen.“
Er erklärt das mit einer seltsamen Schärfe.
Er trinkt sein zweites Bier aus, es ist nach Mitternacht. Er wird nach Hause fahren, fünf Stunden schlafen. Dann ist Donnerstag, und die letzte Koalitionsrunde beginnt. Draußen wartet der Fahrer, Al-Wazir steigt hinten ein. Neben ihm ist ein Kindersitz befestigt. Jeden Tag, bevor er nach Wiesbaden fährt, wärmt er seinem Ältesten eine Milch, zieht ihn an, bringt ihn zur Kita.
Der Junge ist drei. Er hat eine deutsche Staatsbürgerschaft. Und die des Jemen. Die Eltern haben ihn Bassam genannt.
Nicht Fritz.