: Der Trost des jungen Wärters
Der Pfleger Ralf Morschek verbindet Unterarme, die von Rasierklingen schraffiert wurden. Daneben malt er und betreibt in Düsseldorf die Galerie Augentrost. Hier werden die getröstet, die in der klinischen Psychiatrie keinen Trost finden. Eine soziale Nische im Szene-Stadtteil Bilk
von LUTZ DEBUS
Chronischer Grenzgänger ist er, dieser Ralf Morscheck. Wenn er an zwei Tagen in der Woche zu einer seiner beiden Arbeitsstellen fährt, passiert er mit seinem klapprigen Opel einen Fallbaum mit Pförtnerhäuschen. Die Rheinischen Kliniken in Düsseldorf-Grafenberg kommen ohne diese Sperranlage wohl noch nicht aus.
Zehn Jahre arbeitete Morscheck auf der geschlossenen Aufnahmestation als Pfleger. Von seiner Statur her entspricht er tatsächlich dem, der einen abholen kommt. Sehr breit, sehr groß. Trotzdem hat er auf jener Station viel Prügel bezogen. Diese Art Arbeitsunfälle, die geschehen, wenn unvermittelt mit schweren Gegenständen geschlagen oder geworfen wird, war er leid. Er ließ sich auf eine offene Station versetzen. Hier wird selten attackiert. Die Menschen verletzen sich eher selbst. Er verbindet Unterarme, die mit Rasierklingen schraffiert wurden oder mit Zigaretten verbrannt. Lieber aber hört er den Menschen zu, wenn sie von ihrem Leben berichten. Auch sie sind chronische Grenzgänger.
Inzwischen gibt es dafür sogar eine Diagnose: das Borderline-Syndrom. Ein bekanntes Fachbuch über diese Krankheit heißt „Ich hasse Dich - verlass mich nicht!“ Morscheck hat einige dieser Fachbücher gelesen.
Schlauer geworden ist er durch die vielen Erzählungen der Patienten. „Fast immer gibt es einen Vater, der wegstößt und eine Mutter, die verschlingt. Immer gut und böse. Und das Gute ist böse und das Böse ist gut. Grautöne oder gar Farben läßt so eine Biographie, so ein Leben nicht zu.“
Ich hasse Dich – verlass mich nicht? Nach seiner Schicht verlässt Morscheck diese Patienten, eilt zu seiner anderen Arbeit. Im Szene-Stadtteil Bilk hat er mit zwei anderen Künstlern vor Jahren eine Galerie eröffnet. Zuvor beherbergte das heruntergekommene Ladenlokal eine Drogerie. Selbst nach ihrer Schließung atmet sie noch den Charme der Fünfziger Jahre. Emaille-Schilder und Tiegelchen, Fläschchen mit rätselhaftem Inhalt und Apparaturen für ein Labor staubten vor sich hin. Die alte Leuchtreklame für Klosterfrau Melissengeist über der Ladentür blieb der Nachwelt erhalten, sie wurde Firmenschild der Galerie Augentrost.
Augentrost ist eigentlich ein Heilkraut, das für manche Augenleiden eingesetzt wurde. Morscheck fand, dass dies ein stimmiger Titel sei für seine Art, Kunst zu verstehen, Kunst zu machen. Denn Ausstellen allein reicht ihm nicht. Im Hinterzimmer der Galerie befindet sich sein Atelier.
Sein Stil ist verrückter als Dali je malte. Seine Motive sind düsterer als die eines Hieronymus Bosch. Aufgespießte und aufgeschlitzte Leiber, detailliert gestaltete Kreuzigungsszenen, zerschmetterte Körper vor übermächtigen Wolkenkratzern. Trotzdem der Name Augentrost?
Darauf besteht er. Es tröstet ihn, wenn er all die Bilder, die er aus der Psychiatrie nach Hause bringt, malen kann. “Die Gottesanbeterin habe ich gemalt. Sie, diese Riesenheuschrecke, verfolgte monatelang einen Patienten, dann verfolgte sie mich. Ich träumte von ihr. Ich wollte mich ablenken, ging ins Kino. Der Protagonist des Films wurde dummerweise von einer Gottesanbeterin gejagt. Ich ging dann hierhin, klatschte sie auf die Leinwand, auf meine Leinwand, auf meiner Staffelei. Nun kann ich sie angucken und sie kann mich angucken. Verfolgen tut sie mich nicht mehr. Drei Meter mal zweifünfzig. Ich mag große Formate.“
An Wochenenden bietet er Malworkshops an. Morscheck behauptet, dass die Mehrzahl der Leute, die dort hin kommen, verrückt sind. Wahnsinn und Genie gehen Hand in Hand. Das sei keine Legende. Manche Teilnehmer kennt er aus der Klinik. Auf der Station macht er keine Werbung für diese Art von Augentrost. Die ehemaligen Patienten und nun angehenden Künstler haben seinen Namen in der Zeitung gelesen.
Woran er sonst erkenne, dass jemand verrückt sei? Jahrzehnte in der Klinik schaffen einen routinierten Blick. Ein Teilnehmer schaut jede Minute gewissenhaft, ob er etwa Farbe an seinen Händen, an seiner Kleidung habe. Manche führen Gespräche mit ihren Bildern. Das machen auch andere Menschen, nicht nur Verrückte, mag man einwenden. Nach so langer Zeit als Pendler zwischen scheinbarer Normalität und Psychiatrie ist für Morscheck die Grenze nicht mehr so klar, so starr. „Der Schlagbaum soll diejenigen beruhigen, die sich vor ihm wähnen.“
Die Workshops sind beliebt und oft ausgebucht. Dabei ist die Vermittlung von Maltechniken oft Nebensache. Viele genießen die freie Atmosphäre, die Möglichkeit, sich zu treffen, sich auszutauschen und auch, sich zurückzuziehen. Eine ehemalige Patientin wollte nach dem Ende des Workshops bleiben, war nicht fertig geworden. Mit filigranen Figuren, Symbolen und Mustern hatte sie eine Wand der Toilette bemalt. Sie blieb drei Wochen, unterbrach ihre Arbeit nur, wenn jemand aufs Klo musste.
Fachleute, die die psychiatrischen Großkrankenhäuser abschaffen wollen, propagieren, dass viele soziale Nischen geschaffen werden müssen, damit jeder Mensch seinen Platz in der Gemeinde, im Stadtteil bekommen kann. Augentrost ist bereits so eine Nische, erhält hierfür allerdings keinen Cent öffentlicher Zuschüsse.
Manches hat bei Augentrost überhaupt nichts mit Psychiatrie zu tun. Ein Krankenhaus ist hygienisch, keimfrei, es versucht asexuell zu sein. Sexualität erscheint dort höchstens als behandlungsbedürftige Abnormalität. Bei Augentrost aber ist das ganze pralle Leben zu bestaunen. Ralf Morscheck entdeckte vor Jahren seine Faszination, Körper zu bemalen und dann zu fotografieren. In einer atemberaubenden Serie von Fotos zeigt er seine lebenden Bilder. Keine seiner Kunstwerke, keines seiner Modelle wiegt unter 150 Kilogramm. Bei den Weight-Watchers mag man Jahre über seine eigenen falschen Ernährungsgewohnheiten lamentieren. Nach einem Termin bei Augentrost kann man sie genießen.