: Mehr als eine Kleiderordnung
Frankreich will den Kopftuchstreit beenden, indem alle religiösen Symbole aus den staatlichen Schulen verbannt werden. Aber dieses Vorgehen birgt viele Gefahren
Ein Stück Stoff beschäftigt Frankreich. Schulmädchen beharren auf ihrem „Recht“, im Unterricht ein Kopftuch zu tragen. Eine hochkarätig besetzte Expertenkommission befasst sich mit dem Problem. Und der Staatspräsident gibt ein Gesetz in Auftrag, das das Tuch und andere „ostentative religiöse Symbole“ an den Schulen verbieten soll.
Geht es wirklich um ein Stück Stoff? Muss, wer mitdiskutieren will, ernsthaft auf Sätze antworten wie: „Das Kopftuch ist meine Wahl“ und: „Kopftücher sind ein göttliches Gebot“? Wer sich darauf einlässt, begibt sich in eine Sackgasse, an deren Ende religiöse Fanatiker warten.
Islamische Kopftücher sind sexistische Markierungen. Sie isolieren Frauen, trennen die Geschlechterwelten, stellen das Religiöse in den Vordergrund. Und: Sie behindern das Zusammenleben verschiedener Kulturen. Mit gesellschaftlichem Fortschritt oder mit sozialer Integration haben sie genauso wenig zu tun wie Kreuz und Kippa.
Ernst zu nehmen ist dagegen, wenn muslimische Frauen sagen: „Wenn ich ein Kopftuch trage, werde ich nicht von Männern behelligt.“ Das führt mitten hinein in eine Logik, die sich in den französischen Vorstädten etabliert hat. Dort lebt ein Großteil der Einwandererfamilien, dort grassieren Armut und Hoffnungslosigkeit, dort ist der Islam zugleich Mehrheitsreligion und einzige ideologische Referenz, und dort versuchen Banden von jungen Männern, ihre Gesetze durchzusetzen. Frauen sind für sie entweder „züchtig“ (und kopftuchtragend) – oder Freiwild. Diese Brutalisierung der Geschlechterverhältnisse kann ein Gemeinwesen nicht hinnehmen. Wer jedoch daraus die Konsequenz zieht, das Kopftuch zu rechtfertigen, gibt der Logik des Ghettos nach.
Das Kopftuch betrifft ein Grundprinzip der französischen Republik: den Laizismus, die radikale Trennung von Staat und Religion. Die Idee entstammt der Revolution von 1789, bei der die Franzosen feststellten, dass es einfacher ist, einen König zu stürzen, als einer Religion die Privilegien zu nehmen. Unterstützt von Monarchien und Kirchen ganz Europas bekämpften französische katholische Ultras erbittert die Republik.
Erst mehr als ein Jahrhundert später setzten die Republikaner den Laizismus durch: Sie kündigten das Konkordat mit dem Vatikan, gründeten Vereine, die an die Stelle der religiösen Orden traten, und vertrieben die Priester aus den Schulen. Mit ihnen verschwanden Kreuze, Religionsunterricht und antirepublikanische Propaganda aus den staatlichen Bildungseinrichtungen. Die „laïcité à la française“ verwandelte die Schulen Frankreichs in republikanische Nachwuchsschmieden. Ihr Grundprinzip ist die Gleichheit aller vor dem Wissen – unabhängig von Nationalität, Einkommen, Sprache und Religion. So steht es im Gesetz von 1905.
Während fast alle Ideen der französischen Revolutionäre Spuren in den Nachbarländern hinterlassen haben, ist Laizismus ein Fremdwort geblieben. Das ist kein Zufall: Fast überall sonst haben die alten Kirchen ihre Machtposition im öffentlichen Leben behauptet. Besonders in Deutschland, wo bis heute das Konkordat von 1933 gilt, wo Gott erste Autorität im Grundgesetz ist, wo das Finanzamt Kirchensteuern eintreibt, wo eine große Partei das „C“ im Namen führt und wo Kreuze und Religionsunterricht in staatlichen Schulen Standard sind.
In Frankreich ist die Trennung in einen privaten (religiösen) und einen öffentlichen (republikanischen) Raum auch 215 Jahre nach der Revolution weiterhin ein nützliches Instrument – gerade angesichts erstarkender fundamentalistischer Bewegungen und zunehmender Einmischungen von Religionen in die Politik weltweit. Aber der Laizismus ist gefährdet. Und paradoxerweise könnte sie das vom Präsidenten angestrebte Verbot der „ostentativen religiösen Symbole“ zusätzlich schwächen.
Begonnen haben die Halbherzigkeiten im Umgang mit dem Laizismus in den Achtzigerjahren. Damals schaltete ein Erziehungsminister den Staatsrat in den Kopftuchstreit ein – anstatt selbst das Gesetz anzuwenden und es zu verbieten. Die Entscheidung des Staatsrats wurde zum Albtraum der Schulleiter – denn seither müssen sie in jedem Einzelfall ermessen, ob eine Schülerin ihr Tuch aus individueller Überzeugung trägt – was der Staatsrat für mit dem Laizismus vereinbar hält – oder ob sie die Schulordnung stören will.
Der ambivalente Entscheid führt zu einer Fülle von Konflikten, die die Öffentlichkeit polarisiert haben. Gleichzeitig entdeckten die französischen Politiker die mehrere Millionen Wähler aus Einwandererfamilien für sich. In ihre Sprache schlichen sich religiöse Kategorien ein. Aus Bürgern wurden „muslimische Bürger“ – als hätte die Religionszugehörigkeit, die dank Laizismus offiziell nicht einmal statistisch erfasst wird, eine politische Bedeutung.
Dabei haben sich die meisten Franzosen gut mit dem Laizismus arrangiert. Wenn überhaupt, praktizieren sie ihre Religion im Privaten. Doch einer Minderheit muslimischer Ultras gelang es, die neue Situation politisch zu nutzen. Wie einst die monarchistischen, antirepublikanischen, katholischen Kräfte wollen sie die Regeln der Republik verändern, verlangen „Kompromisse“. Als ginge es darum, den Laizismus den Bedürfnissen der Religionen anzupassen.
Ein Gesetz schreiben, um ein Problem zu lösen – das ist ein typisch französischer Reflex. Er zeigt an, dass eine Diskussion beendet ist und die Regierung etwas unternimmt. Im Falle des Verbots religiöser Symbole an den Schulen aber birgt dieses Vorgehen viele Gefahren: Das Problem wird auf ein Stück Stoff reduziert. Das entwertet das umfassende Laizismusgesetz von 1905, weil ein Teilaspekt herausgegriffen wird, ohne klarzustellen, dass Laizismus mehr ist als eine Kleiderordnung. Zudem verändert ein Gesetz nicht das Geringste an der Lage in den Vorstädten, aus denen die kopftuchtragenden Mädchen stammen. Dabei kann das Gleichheitsgebot der „laïcité à la française“ nur dann funktionieren, wenn diese Ghettos verschwinden.
Nicht einmal die konkreten Probleme im Alltag kann ein Gesetz lösen. Den Schulleitern gibt ein Verbot, das lediglich „ostentative Symbole“ betrifft, nicht die gewünschte Klarheit. Den Fundamentalisten aber verschafft gerade diese Ambivalenz neuen Verhandlungsspielraum. Künftige Konflikte an den Schultoren sind damit vorprogrammiert – sowie neuer Zulauf für religiöse Ultras.
Einen anderen Vorschlag zur Entspannung hat der französische Präsident bislang nicht berücksichtigt. Die Expertenkommission regte an, zusätzlich zu den bisherigen gesetzlichen Feiertagen, die entweder politischen oder christlichen Ursprungs sind, zwei neue einzuführen: den israelitischen Jom-Kippur- und den muslimischen Aïd-al-Kebir-Tag. Diese Geste wäre ein Signal dafür, dass die monotheistischen Minderheiten fester und gleichberechtigter Bestandteil der Gesellschaft geworden sind. Und dass die Republik ihre Bürger nicht diskriminiert. Schon gar nicht aus religiösen Gründen. DOROTHEA HAHN