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Archiv-Artikel

Eine halbe Ewigkeit für Halberstadt

Gestern Abend wurde der erste Akkord von John Cages Orgelwerk „So langsam wie möglich“ angestimmt

BERLIN taz ■ Gestern wurde in der St.-Buchardi-Kirche zu Halberstadt der erste Ton der experimentellen Komposition „As slow as possible“ („So langsam wie möglich“) angeschlagen. Das Werk des 1992 verstorbenen Ambient-Komponisten John Cage nimmt den Titel wörtlich: Seit am 5. September 2001 Motor und Blasebalg der Kirchenorgel eingeschaltet wurden, war Stille. Dem ersten E-Dur-Akkord lauschten unter anderem Christina Weiss, Staatsministerin für Kultur und Medien, der Biologe Jens Reich und der Schriftsteller und Regisseur Alexander Kluge.

Die ehrgeizige Aufführung kommt auf Betreiben der in Halberstadt ansässigen John-Cage-Orgelstiftung, wo auch eine Cage-Akademie geplant ist, zustande. Sie wurde gestern von Performances und Lesungen begleitet.

Den Veranstaltern geht es „um eine neue Erfahrung von Zeit in einer Zeit, die keine Zeit hat“. John Cage gilt als bekanntester US-Komponist des 20. Jahrhunderts und als Hauptvertreter der experimentellen Musik. Klänge betrachtete er nicht als Unterhaltung, sondern als Bereicherung der menschlichen Wahrnehmung. Seine bekannteste Komposition dürfte das Stück „4.33“ sein, das aus 4 Minuten und 33 Sekunden Stille besteht – und aus den Reaktionen des Publikums.

Die könnten arg strapaziert werden: „Wenn etwas nach zwei Minuten langweilig wird, versuche es mit vier Minuten“, sagte Cage einmal, „wenn es dann immer noch langweilig ist, versuche es mit acht. Dann 16. Dann 32. Vielleicht merkt man ja irgendwann, dass es überhaupt nicht langweilig ist.“

Ob „So langsam wie möglich“ nun sehr langweilige oder doch sehr aufregende Musik ist, wird sich allerdings erst in 639 Jahren herausstellen: Wird das Stück im vorgeschriebenen Tempo aufgeführt, endet es im Jahr 2642.

ARNO FRANK