: Die Rechte der Toten
Die Sammlung und Ausstellung menschlicher Präparate und Leichen findet weitgehend in einer gesetzlichen Grauzone statt. Nur in wenigen Bundesländern existieren verbindliche Sektionsgesetze
VON GISELA SONNENBURG
Die Leiche mit dem Spitznamen „Lene“, liebevoll auch „Lenchen“ genannt, sorgt immer wieder für Diskussionen. Seit über hundert Jahren schwimmt sie, in zwei Hälften zerlegt, im hessischen Marburg in Formalin – im Dienst der Wissenschaft. Hinter dem Glanzstück der Marburger Medizinhistorischen Sammlung steht ein erkennbares Schicksal: Das Mädchen war hochschwanger.
Manchen Besuchern, die sich an Gallensteinen und Leberzirrhosen ergötzen, stößt Lenchen bitter auf. Begriffe wie „Ehre“ und „Würde“ kommen auf, und gelegentlich fallen Bemerkungen wie: „Geschmacklos!“
Die Diskussion der Laien berührt eine wissenschaftliche Problematik. Denn der Umgang mit zur Forschung und Lehre genutzten Leichen und Leichenteilen ist in den meisten Staaten, so auch in Deutschland, juristisch ein blinder Fleck: Einwilligungen von Verstorbenen oder Hinterbliebenen sind erst seit rund 50 Jahren üblich und nicht in allen Fällen vorgeschrieben.
Sektionsgesetze gibt es gar nur in Hamburg, Berlin und Bremen; die restlichen Bundesländer behelfen sich mit Paragrafen anderer Verordnungen. Pathologen, Rechtsmediziner und Anatomen fordern deshalb ein bundeseinheitliches Gesetz, an dessen Erstellung viele bereit sind mitzuarbeiten. Bis dahin betreiben sie eine Art freiwillige Selbstkontrolle.
Skandale auf diesem Gebiet gibt es sowieso erst seit den 80er-Jahren: ob zersägte Nazi-Opfer, im Dritten Reich Hingerichtete oder in Menschenversuchen zu Tode Gequälte als Anschauungsmaterial. Der öffentliche Druck bewirkte, so in Tübingen und Frankfurt, die Beisetzung von NS-Präparaten.
Um sich auf einen weit reichenden Kodex zu einigen, verabschiedete ein aus 15 Forschern bestehender „Arbeitskreis Menschliche Präparate in Sammlungen“ im August letzten Jahres einschlägige Leitlinien: Die „Empfehlungen zum Umgang mit Präparaten aus menschlichem Gewebe in Sammlungen, Museen und öffentlichen Räumen“ gelten seither als kompetentes Regelwerk. Professoren, die über Exponate im Zweifel sind, kontaktieren den Arbeitskreis – und erhalten tatkräftigen Rat. Nur: Ob aus den Empfehlungen jemals ein Gesetz mit bundesweiter Gültigkeit wird, ist ungewiss.
Die Rechte der Toten sind in Deutschland nämlich Ländersache. Für ein einheitliches Gesetz müsste die Verfassung geändert werden, wie es beispielsweise für das Transplantationsgesetz geschah. Aber Robert Jütte vom Institut für Geschichte der Medizin der Stuttgarter Robert Bosch Stiftung – er ist zugleich Sprecher des Arbeitskreises – weiß: „Die Politik scheut sich, in die Länderhoheit einzugreifen. Es ist schon als Erfolg zu werten, dass die Kultusministerkonferenz die Empfehlungen akzeptierte: Dadurch haben sie immerhin halboffiziellen Charakter.“
In der Praxis bewähren sich die Leitlinien auf der Grundlage des guten Willens – solange sich die Hüter der rund dreißig deutschen universitären Sammlungen auch ohne gesetzlichen Zwang an sie halten. Sie sehen die Entfernung von Präparaten aus der Nazizeit vor, auch die solcher, die von anderen Gewaltopfern stammen könnten. Und sie schreibt eine Anonymisierung der Objekte vor. Für die Archive sollen hingegen penible Dokumentationen erstellt werden – oft ist dies jedoch ein finanzielles Problem, auch eines der Fachkräfte.
So sucht Thomas Schnalke, Leiter der berühmten Medizinhistorischen Sammlung der Berliner Charité, noch einen geeigneten Doktoranden: um den bereits einmal überprüften und um das ödemische Herz eines Kriegsgefangenen verringerten Bestand nochmals zu sichten. Auf neue Präparate verzichtet Schnalke – zum einen sei man mit über 10.000 Objekten hervorragend bestückt, zum anderen wolle er sich nicht auf unsicherem Rechtsboden bewegen: „Noch ist alles eine Grauzone.“ Kollegen von ihm tüfteln deswegen an neuen Einwilligungsformularen. Die Charité setzt somit auf Aufklärung – und in dem, was sie dem Publikum zeigt, „auf Didaktik, nicht auf Sensation“. Das entspricht ganz den „Empfehlungen“: Die Objekte sollen lehrreich, ästhetisch und würdevoll wirken – und eben nicht reißerisch oder gar zirkusreif.
„Künstlerisch verfremdete Präparate“ wie die eines Gunther von Hagens sind daher abzulehnen. Dass von Hagens, dessen absurd-verspielte „Körperwelten“ ab heute in Frankfurt am Main zu sehen sind, für seine Ganzkörperexponate ein Museum einrichten will, und zwar möglichst in Berlin als Ergänzung zur Sammlung der Charité, verfolgt Schnalke mit sehr gemischten Gefühlen: „Die meisten seiner Plastinate sind Event-Leichen, und das werden wir niemals unterstützen.“
Die Koryphäen der „Empfehlungen“, zu denen Schnalke zählt, akzeptieren bestenfalls wissenschaftlich gut begründete Hintertüren aus ihrer selbst gewählten Strenge: Sie erlauben nur bei „Unikaten von hohem medizingeschichtlichen, wissenschafts- und kulturhistorischen Wert“ eine Ausnahme von ihrem Regelwerk.
Die „berechtigten Belange Dritter“ sollen dabei berücksichtigt werden. Die Justiz bestätigt das im Einzelfall: So forderten die Töchter von Ulrike Meinhof das präparierte Gehirn der Terroristin erfolgreich zwecks Bestattung zurück. Und manchmal müssen Museen – oft nach langem Streit – Präparate an eine bestimmte Ethnie zurückgeben: Die Zurschaustellung von toten Dunkelhäutigen, Aborigines oder Indianern wird als Trophäisierung und als Kennzeichen politischer Repression verstanden.
Ethische Bedenken führten auch zur Gründung des Arbeitskreises. Die Initiative hierzu kam aus Dresden, vom Deutschen Hygiene-Museum. Susanne Rößiger, Leiterin der dortigen Sammlung: „Wir hatten die Befürchtung, einige unserer Präparate könnten von Opfern des Stalinismus stammen.“ Das habe sich zwar nicht bestätigt. Aber: „Es ist wichtig, darüber zu diskutieren.“
„Wir sind eigenartig motiviert in unseren Leistungen und müssen diese permanent mit kritischer Reflexion begleiten“, fordert denn auch Winfried Henke vom Mainzer Institut für Anthropologie. Henke praktiziert das bis ins Detail. So kürzelt er „Sommersemester“ mit „SoSe“ statt mit „SS“: um NS-Assoziationen zu vermeiden.
Im Arbeitsalltag hat er mit frühmittelalterlichen Skeletten zu tun: Fundstücke aus Grabungen in Baugebieten. Nach der Untersuchung übergibt er sie den Landesämtern: zur Nachbestattung. Henke beruft sich auf den Kant’schen kategorischen Imperativ: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Nur: Nicht alle wollen dieselben Gesetze.
Das gilt nicht nur für Länder, sondern auch für Individuen. Zwar verbietet keine Weltreligion die Obduktion, dennoch sinkt in Deutschland die Zahl der Sektionen – obwohl sie häufig eine andere als die vermutete Todesursache offenbaren. Puristen fordern derweil auch für kulturhaltige Exponate wie Pharaonen-Mumien oder „Ötzi“ die Bestattung – der Totenruhe wegen.
Dabei „verblasst“ in Deutschland juristisch die „postmortale Menschenwürde“ schon nach 25 bis 30 Jahren, je nach Bundesland. Diese Frist ist nicht moralisch motiviert, sondern den Bestattungsgesetzen entlehnt: Gräber sind nach Ablauf dieser Frist nur schwer zu halten, werden meistens neu bestückt.
„Es bleibt ein Unbehagen“, konstatiert Winfried Henke – auch bezüglich der Präparate. Die Züricher Rechtswissenschaftlerin Brigitte Tag warnt dennoch davor, alle Präparate zu beerdigen, bei denen keine Einwilligung des Spenders vorliege. Das werde „möglicherweise weder dessen Anliegen noch dem Sammler gerecht“ – zudem wären dann die Vitrinen der Anatomien flugs nahezu leer.
So schwebt über dem Schutz der Toten ein Gewirr der Gradbeschreitungen. Jütte plädiert daher für weitere Debatten mit dem Ziel der Gesetzgebung: „Die Juristen sind gefordert, sich mit dieser Sache zu beschäftigen.“