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Archiv-Artikel

Bombay, Mumbai, Slumbay

Die Umbenennung in Mumbai soll die Muttergottheit Mumbadevi ehrenDer enorme ökonomische Druck nährt religiöse und ethnische Intoleranz

von BERNARD IMHASLY (Text)und JÖRG BÖTHLING (Fotos)

Wer neu in Bombay ankommt, reibt sich erst einmal die Augen. Schon wegen der Luftverschmutzung, die trotz der kühlen Meeresbrise über der Halbinsel liegt, in die sich das kommerzielle und industrielle Zentrum Indiens drängt. Die GlobalisierungskritikerInnen, die jetzt in der Stadt eintreffen, haben noch einen anderen Grund. Während sie die brasilianische Hafenstadt Porto Alegre bei den ersten Treffen des Weltsozialforums jeweils eine Woche lang übernahmen und in eine Feststadt verwandelten, werden sie in Bombay kaum wahrgenommen. Die Achtzehn-Millionen-Stadt überspült in ihrem hektischen Verfolgen von Profit und der Sicherung täglichen Überlebens selbst die Großveranstaltung mit ihren 75.000 Teilnehmern. Und während Porto Alegres tropischer Reichtum noch – verschämt – ein bisschen Kolonialnostalgie aufkommen lassen mochte, stellt Bombay gnadenlos die Härte der Globalisierung zur Schau.

Die Stadt eignet sich auch als historisches Schaustück weltwirtschaftlicher Prozesse, denn sie wurde ein Opfer der Globalisierung, als sie noch ein kleines Dorf war. Im Jahr 1662 war sie nämlich ein Teil des Brautpreises, den die portugiesische Königsfamilie entrichten musste, damit die Infantin Katharina von Braganza König Karl II. von England ehelichen konnte. Das Fischerdorf mit seinen acht vorgelagerten Inseln war zwar keine lukrative Mitgift, aber „Bom Bahia“ stellte sich als gute Investition heraus. Die Buchten zwischen den Inseln bildeten einen natürlichen Tiefseehafen und wurden von der britischen Krone an die „East India Company“ weiterverkauft. Die Company, das Urmodell des modernen Multis, machte aus dem Nest die „Urbs prima in Indis“ und später ihren lokalen Hauptsitz. Bombay wurde ein wichtiger Werftplatz für die Herstellung britischer Kriegs- und Handelsschiffe. Dann verdrängte die Stadt die blühenden Textilmanufakturen an der Westküste, als die ehrenwerte Gesellschaft sie zum Umschlagplatz für die Baumwolle machte, die in England der Rohstoff für die industrielle Revolution wurde.

Inzwischen sind die Buchten zwischen den Inseln längst aufgeschüttet und so eine längliche Halbinsel geformt, an deren landwärtiger Seite der größte Hafen Südasiens entstanden ist. Täglich wälzt sich ein Strom von einer halben Million Fahrzeugen und zweieinhalb Millionen Menschen in Vorortzügen an die schmale Südspitze, das kommerzielle Zentrum nicht nur der Stadt, sondern auch des Bundesstaats Maharashtra und des ganzen Landes. Zwei Drittel der indischen Industriefirmen haben sich im Norden der Metropole angesiedelt, und das Hochhaus der Börse überragt die neugotischen Kolonialbauten. Auch der Name wurde geändert. Vor einigen Jahren wollte ihn die Lokalpartei „Shiv Sena“ von kolonialen Anklängen reinigen und benannte die Stadt in Mumbai um. Es war eine Verbeugung vor der lokalen Muttergottheit Mumbadevi, welche die ersten Fischer verehrt hatten, bevor die Portugiesen ihre Bilder durch Kreuze und Kirchen ersetzten.

Heute geben die Bewohner ihrer Stadt manchmal noch einen dritten Namen – „Slumbay“. Die Stadt hat hunderte von Elendsvierteln, davon den größten Slum Asiens namens Dharavi, in dem allein 500.000 Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht leben. Die Slums sind allerdings nicht das erste Ziel, das die rund 200 Familien erreichen, die täglich in die Stadt einsickern. Die meisten Migranten landen auf der Straße – in Pipeline-Rohren, die darauf warten, verlegt zu werden, im Umkreis der Abfallhalden vor der Stadt, entlang der Böschungen der Eisenbahnlinien. Oder sie breiten nach Einbruch der Nacht ihr Hüft- oder Sarituch einfach auf den Gehsteigen aus und legen sich nieder. 60 Prozent der 1.200 Kilometer des städtischen Straßennetzes verwandeln sich in der Nacht in Schlafstätten.

Die allgegenwärtige Armut kennt eine Vielzahl von feinen Abstufungen. Verglichen mit den tausenden von Familien, die nicht einmal ein Plastik- oder Kartondach über dem Kopf haben, leben die Einwohner von Dharavi schon beinahe im Luxus. Und das unerbittliche Marktgesetz der Knappheit hat dafür gesorgt, dass dort die Monatsmiete für einen winzigen Wohnraum von zwei mal drei Metern inzwischen 8.000 Rupien (140 Euro) kosten kann – das Einkommen eines Tagelöhners in fünf Monaten. Noch besser gestellt ist etwa die BDD-Kolonie im alten Industriezentrum der Stadt, obwohl sie den Besucher an die voll gedrängten Elendsbehausungen der industriellen Frühzeit erinnert. Es sind 207 identisch (und identisch schlecht) gebaute dreistöckige Häuser mit insgesamt 16.000 Einzimmerwohnungen von 12 bis 18 Quadratmetern und einer Toilette auf jedem Stockwerk. Die Einwohnerzahl der Kolonie entspricht der einer mittelgroßen europäischen Stadt – hunderttausend Menschen wohnen in den 207 Häusern.

Ist es die Relativität der sozialen und ökonomischen Position, die dafür sorgt, dass die Ameisenhaufen der Slums „in Wahrheit vitale soziale Organismen sind“, die einen hohen Grad an Selbstorganisation und die Pflege von Gemeinschaftsformen aufweisen, wie die Journalistin Kalpana Sharma in ihrem Buch über Dharavi behauptet? Oder ist es der Fatalismus des Inders, der rätseln lässt, dass dieses enorme Gefälle zwischen Reich und Arm keine permanenten Sozialkonflikte auslöst? Der Besucher erinnert sich an den Arbeiter auf einer Baustelle für Luxus-Appartements. Fand der es nicht empörend, dass er in einer Blechbude wohnte, so groß wie der Ankleideraum in einer dieser Wohnungen? Seine Antwort war eine stumme Gebärde. Er streckte dem Fragenden die Hand entgegen, die Finger gespreizt: „Schau meine Hand an“, sagte er damit, „sind die fünf Finger etwa alle gleich lang?“

Doch solche Gesten können ebenso täuschen wie der fröhlich-geschäftige Lärm, der aus den winzigen Wohnungen der BBD-Kolonie ertönt. Die Stadt ist zwar stolz darauf, dass in ihr das ganze Völkergemisch des Subkontinents ein Einkommen findet, von Pathanen bis zu Bengalen und Tamilen. Man braucht aber nur einen Blick auf die Shiv Sena zu werfen, um die Brüche und Spannungen zu erkennen. Die heute größte Lokalpartei begann ihren Aufstieg in beinahe klassisch faschistischer Weise als brutale Streikbrecherin im zweijährigen Tarifkonflikt der lokalen Textilindustrie, des wichtigsten Arbeitgebers der Stadt. Darauf mobilisierte Parteichef Bal Thackeray – eine Anglisierung des einheimischen Namens Thakre – seine Schläger gegen die fleißigen Südinder, die den eingeborenen „Söhnen der Erde“ die Arbeit wegnahmen. Als auch dieser Konflikt seine identitätsstiftende Rolle einbüßte, wurde die alteingesessene Muslimen-Minderheit zum Feind gestempelt. Nach der Zerstörung der Ayodhya-Moschee im Dezember 1992 brannten Shiv-Sena-Banden nicht nur ganze Slumquartiere mitsamt ihren Bewohnern nieder, sie besuchten auch die Hochhäuser im exklusiven Malabar Hill und brandschatzten die Wohnungen mit muslimischen Namensschildern an der Tür.

Inzwischen ist die Shiv Sena ein Koalitionspartner der nationalistischen BJP-Regierung in Delhi, sie hat mit der BJP den Bundesstaat regiert und beherrscht das Gemeindeparlament von Bombay. Die Pfründen der Macht haben nicht nur zu endemischer Korruption geführt, sie haben auch den Opportunismus der chauvinistischen Ideologie freigespült. So kann es vorkommen, dass „Sainiks“ jeden Februar durch die smarten Geschäftsstraßen ziehen und die Schaufenster einschlagen, die es wagen, „Valentine“-Herzen auszustellen. Doch wenn es Thackerays Sohn beliebt, kann er Michael Jackson zu einem Konzert einladen. Die Shiv-Sena-Vandalen stellen dann den Schutzdienst.

Die Partei fand auch nichts dabei, Slums freizuschlagen, als es darum ging, den stockenden Privatverkehr der Mittelklasse mit dem Bau von 56 Überführungen über Straßenkreuzungen wieder in Fahrt zu bringen. Inzwischen ist auch die antimuslimische Hindu-Identität nur noch ein Feigenblatt. Als kürzlich Hindus aus Bihar nach Bombay kamen, um sich für ein paar hundert Stellen bei der Indischen Eisenbahn zu bewerben, wurden sie von Sainiks aus den fahrenden Zügen geworfen, weil sie die „jobs for the boys“ gefährdeten.

Der enorme ökonomische Druck einer Achtzehn-Millionen-Stadt nimmt übrigens nicht nur bei den Hindus das Gesicht religiöser oder ethnischer Intoleranz an. Vor einigen Tagen versprach eine lokale islamische Organisation jedem Muslim hunderttausend Rupien, der das Gesicht von Salman Rushdie – er lebt gegenwärtig in seiner Geburtsstadt – mit schwarzer Farbe überstreichen kann.